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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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erbarmest dich weder deines stammelnden Kinds, noch dei¬
nes unglückseligen Weibs, das du bald zur Wittwe machen
wirst. Werde ich deiner beraubt, so wäre es das Beste,
ich sänke in den Boden hinab. Den Vater hat mir Achil¬
les getödtet, meine Mutter hat der Bogen Diana's erlegt,
meine sieben Brüder hat auch der Pelide umgebracht,
ohne dich habe ich keinen Trost, Hektor, du bist mir Vater
und Mutter und Bruder. Darum erbarme dich, bleib
hier auf dem Thurm; mach dein Kind nicht zur Waise,
dein Weib nicht zur Wittwe! Das Heer stelle dort an
den Feigenhügel: dort steht die Mauer dem Angriffe frei
und ist am leichtesten zu ersteigen, dorthin haben die tapfer¬
sten Krieger, die Ajax beide, Idomeneus, die Atriden und
Diomedes schon dreimal den Sturm hingelenkt, sey es,
daß ein Seher es ihnen offenbarte, sey's daß das eigene
Herz sie trieb!"

Liebreich antwortete Hektor seiner Gemahlin: "Auch
mich härmt Alles dieses, Geliebteste; aber ich müßte mich
vor Troja's Männern und Frauen schämen, wenn ich,
erschlafft wie ein Feiger, hier aus der Ferne zuschaute.
Auch mein eigner Muth erlaubt es mir nicht, er hat mich
immer gelehrt, im Vorderkampfe zu streiten; zwar, das
Herz weissagt es mir: der Tag wird kommen, wo die
heilige Troja hinsinkt, und Priamus und all sein Volk;
aber weder der Trojaner Leid, noch der eigenen Eltern
und der leiblichen Brüder, wenn sie dann unter dem
Schwert der Griechen fallen, geht mir so zu Herzen, wie
das deine, wenn dich, die Weinende, ein Danaer in die
Knechtschaft führen wird, und du dann zu Argos am
Webestuhl sitzest oder Wasser trägst, vom harten Zwang
belastet, und dann wohl ein Mann, dich in Thränen

erbarmeſt dich weder deines ſtammelnden Kinds, noch dei¬
nes unglückſeligen Weibs, das du bald zur Wittwe machen
wirſt. Werde ich deiner beraubt, ſo wäre es das Beſte,
ich ſänke in den Boden hinab. Den Vater hat mir Achil¬
les getödtet, meine Mutter hat der Bogen Diana's erlegt,
meine ſieben Brüder hat auch der Pelide umgebracht,
ohne dich habe ich keinen Troſt, Hektor, du biſt mir Vater
und Mutter und Bruder. Darum erbarme dich, bleib
hier auf dem Thurm; mach dein Kind nicht zur Waiſe,
dein Weib nicht zur Wittwe! Das Heer ſtelle dort an
den Feigenhügel: dort ſteht die Mauer dem Angriffe frei
und iſt am leichteſten zu erſteigen, dorthin haben die tapfer¬
ſten Krieger, die Ajax beide, Idomeneus, die Atriden und
Diomedes ſchon dreimal den Sturm hingelenkt, ſey es,
daß ein Seher es ihnen offenbarte, ſey's daß das eigene
Herz ſie trieb!“

Liebreich antwortete Hektor ſeiner Gemahlin: „Auch
mich härmt Alles dieſes, Geliebteſte; aber ich müßte mich
vor Troja's Männern und Frauen ſchämen, wenn ich,
erſchlafft wie ein Feiger, hier aus der Ferne zuſchaute.
Auch mein eigner Muth erlaubt es mir nicht, er hat mich
immer gelehrt, im Vorderkampfe zu ſtreiten; zwar, das
Herz weiſſagt es mir: der Tag wird kommen, wo die
heilige Troja hinſinkt, und Priamus und all ſein Volk;
aber weder der Trojaner Leid, noch der eigenen Eltern
und der leiblichen Brüder, wenn ſie dann unter dem
Schwert der Griechen fallen, geht mir ſo zu Herzen, wie
das deine, wenn dich, die Weinende, ein Danaer in die
Knechtſchaft führen wird, und du dann zu Argos am
Webeſtuhl ſitzeſt oder Waſſer trägſt, vom harten Zwang
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[141/0163] erbarmeſt dich weder deines ſtammelnden Kinds, noch dei¬ nes unglückſeligen Weibs, das du bald zur Wittwe machen wirſt. Werde ich deiner beraubt, ſo wäre es das Beſte, ich ſänke in den Boden hinab. Den Vater hat mir Achil¬ les getödtet, meine Mutter hat der Bogen Diana's erlegt, meine ſieben Brüder hat auch der Pelide umgebracht, ohne dich habe ich keinen Troſt, Hektor, du biſt mir Vater und Mutter und Bruder. Darum erbarme dich, bleib hier auf dem Thurm; mach dein Kind nicht zur Waiſe, dein Weib nicht zur Wittwe! Das Heer ſtelle dort an den Feigenhügel: dort ſteht die Mauer dem Angriffe frei und iſt am leichteſten zu erſteigen, dorthin haben die tapfer¬ ſten Krieger, die Ajax beide, Idomeneus, die Atriden und Diomedes ſchon dreimal den Sturm hingelenkt, ſey es, daß ein Seher es ihnen offenbarte, ſey's daß das eigene Herz ſie trieb!“ Liebreich antwortete Hektor ſeiner Gemahlin: „Auch mich härmt Alles dieſes, Geliebteſte; aber ich müßte mich vor Troja's Männern und Frauen ſchämen, wenn ich, erſchlafft wie ein Feiger, hier aus der Ferne zuſchaute. Auch mein eigner Muth erlaubt es mir nicht, er hat mich immer gelehrt, im Vorderkampfe zu ſtreiten; zwar, das Herz weiſſagt es mir: der Tag wird kommen, wo die heilige Troja hinſinkt, und Priamus und all ſein Volk; aber weder der Trojaner Leid, noch der eigenen Eltern und der leiblichen Brüder, wenn ſie dann unter dem Schwert der Griechen fallen, geht mir ſo zu Herzen, wie das deine, wenn dich, die Weinende, ein Danaer in die Knechtſchaft führen wird, und du dann zu Argos am Webeſtuhl ſitzeſt oder Waſſer trägſt, vom harten Zwang belaſtet, und dann wohl ein Mann, dich in Thränen

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/163>, abgerufen am 26.04.2024.