Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

noch Speise durch die Kehle gleiten, so lang mir der
Freund zerfleischt im Zelte daliegt. Mich verlangt nur
nach Mord und Blut und Geröchel der Sterbenden!"
Aber Odysseus sprach besänftigend zu ihm: "Erhabenster
Held aller Griechen, du bist viel stärker als ich, und viel
tapferer im Speerkampf; am Rathe jedoch möchte ich es
dir vielleicht zuvorthun, denn ich habe länger gelebt und
mehr erfahren. So füge sich denn dießmal dein Herz
meiner Ermahnung. Die Danaer müssen ja ihre Todten
nicht mit dem Bauch betrauern; wie einer gestorben, beer¬
digt man ihn, und beweint ihn einen Tag: wer aber ent¬
ronnen ist, der stärke sich mit Trank und Speise, damit
wir um so rastloser kämpfen mögen!"

So sprach er, und wandelte, Nestors Söhne, dann
auch den Meges, Meriones, Thoas, Melanippus und
Lykomedes sich beigesellend, mit diesen der Lagerhütte
Agamemnons zu. Dort nahmen sie die versprochenen
Geschenke, sieben Dreifüße, zwölf Rosse, zwanzig Becken,
sieben untadelige Weiber und die rosige Briseis als achte.
Odysseus wog die zehn Talente Goldes dar und schritt
mit ihnen voran, die Jünglinge mit den andern Geschen¬
ken folgten. So stellten sie sich in den Volkskreis; Aga¬
memnon erhub sich von seinem Sitze, der Herold Talthy¬
bius aber faßte den Eber, richtete ihn zum Opfer zu,
betete und zerschnitt ihm die Kehle. Dann warf er den
geschlachteten wirbelnd in die Meerfluth, den Fischen zum
Fraß. Nun stand Achilles auf und sprach vor den Argi¬
vern: "Vater Jupiter, wie große Verblendung sendest du
doch oft den Männern zu! Gewiß hätte mir der Sohn
des Atreus nicht den Zorn so fürchterlich im Herzen auf¬
geweckt, oder nicht so unbeugsam mit Gewalt das Mädchen

noch Speiſe durch die Kehle gleiten, ſo lang mir der
Freund zerfleiſcht im Zelte daliegt. Mich verlangt nur
nach Mord und Blut und Geröchel der Sterbenden!“
Aber Odyſſeus ſprach beſänftigend zu ihm: „Erhabenſter
Held aller Griechen, du biſt viel ſtärker als ich, und viel
tapferer im Speerkampf; am Rathe jedoch möchte ich es
dir vielleicht zuvorthun, denn ich habe länger gelebt und
mehr erfahren. So füge ſich denn dießmal dein Herz
meiner Ermahnung. Die Danaer müſſen ja ihre Todten
nicht mit dem Bauch betrauern; wie einer geſtorben, beer¬
digt man ihn, und beweint ihn einen Tag: wer aber ent¬
ronnen iſt, der ſtärke ſich mit Trank und Speiſe, damit
wir um ſo raſtloſer kämpfen mögen!“

So ſprach er, und wandelte, Neſtors Söhne, dann
auch den Meges, Meriones, Thoas, Melanippus und
Lykomedes ſich beigeſellend, mit dieſen der Lagerhütte
Agamemnons zu. Dort nahmen ſie die verſprochenen
Geſchenke, ſieben Dreifüße, zwölf Roſſe, zwanzig Becken,
ſieben untadelige Weiber und die roſige Briſëis als achte.
Odyſſeus wog die zehn Talente Goldes dar und ſchritt
mit ihnen voran, die Jünglinge mit den andern Geſchen¬
ken folgten. So ſtellten ſie ſich in den Volkskreis; Aga¬
memnon erhub ſich von ſeinem Sitze, der Herold Talthy¬
bius aber faßte den Eber, richtete ihn zum Opfer zu,
betete und zerſchnitt ihm die Kehle. Dann warf er den
geſchlachteten wirbelnd in die Meerfluth, den Fiſchen zum
Fraß. Nun ſtand Achilles auf und ſprach vor den Argi¬
vern: „Vater Jupiter, wie große Verblendung ſendeſt du
doch oft den Männern zu! Gewiß hätte mir der Sohn
des Atreus nicht den Zorn ſo fürchterlich im Herzen auf¬
geweckt, oder nicht ſo unbeugſam mit Gewalt das Mädchen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0276" n="254"/>
noch Spei&#x017F;e durch die Kehle gleiten, &#x017F;o lang mir der<lb/>
Freund zerflei&#x017F;cht im Zelte daliegt. Mich verlangt nur<lb/>
nach Mord und Blut und Geröchel der Sterbenden!&#x201C;<lb/>
Aber Ody&#x017F;&#x017F;eus &#x017F;prach be&#x017F;änftigend zu ihm: &#x201E;Erhaben&#x017F;ter<lb/>
Held aller Griechen, du bi&#x017F;t viel &#x017F;tärker als ich, und viel<lb/>
tapferer im Speerkampf; am Rathe jedoch möchte ich es<lb/>
dir vielleicht zuvorthun, denn ich habe länger gelebt und<lb/>
mehr erfahren. So füge &#x017F;ich denn dießmal dein Herz<lb/>
meiner Ermahnung. Die Danaer mü&#x017F;&#x017F;en ja ihre Todten<lb/>
nicht mit dem Bauch betrauern; wie einer ge&#x017F;torben, beer¬<lb/>
digt man ihn, und beweint ihn einen Tag: wer aber ent¬<lb/>
ronnen i&#x017F;t, der &#x017F;tärke &#x017F;ich mit Trank und Spei&#x017F;e, damit<lb/>
wir um &#x017F;o ra&#x017F;tlo&#x017F;er kämpfen mögen!&#x201C;</p><lb/>
          <p>So &#x017F;prach er, und wandelte, Ne&#x017F;tors Söhne, dann<lb/>
auch den Meges, Meriones, Thoas, Melanippus und<lb/>
Lykomedes &#x017F;ich beige&#x017F;ellend, mit die&#x017F;en der Lagerhütte<lb/>
Agamemnons zu. Dort nahmen &#x017F;ie die ver&#x017F;prochenen<lb/>
Ge&#x017F;chenke, &#x017F;ieben Dreifüße, zwölf Ro&#x017F;&#x017F;e, zwanzig Becken,<lb/>
&#x017F;ieben untadelige Weiber und die ro&#x017F;ige Bri&#x017F;<hi rendition="#aq">ë</hi>is als achte.<lb/>
Ody&#x017F;&#x017F;eus wog die zehn Talente Goldes dar und &#x017F;chritt<lb/>
mit ihnen voran, die Jünglinge mit den andern Ge&#x017F;chen¬<lb/>
ken folgten. So &#x017F;tellten &#x017F;ie &#x017F;ich in den Volkskreis; Aga¬<lb/>
memnon erhub &#x017F;ich von &#x017F;einem Sitze, der Herold Talthy¬<lb/>
bius aber faßte den Eber, richtete ihn zum Opfer zu,<lb/>
betete und zer&#x017F;chnitt ihm die Kehle. Dann warf er den<lb/>
ge&#x017F;chlachteten wirbelnd in die Meerfluth, den Fi&#x017F;chen zum<lb/>
Fraß. Nun &#x017F;tand Achilles auf und &#x017F;prach vor den Argi¬<lb/>
vern: &#x201E;Vater Jupiter, wie große Verblendung &#x017F;ende&#x017F;t du<lb/>
doch oft den Männern zu! Gewiß hätte mir der Sohn<lb/>
des Atreus nicht den Zorn &#x017F;o fürchterlich im Herzen auf¬<lb/>
geweckt, oder nicht &#x017F;o unbeug&#x017F;am mit Gewalt das Mädchen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[254/0276] noch Speiſe durch die Kehle gleiten, ſo lang mir der Freund zerfleiſcht im Zelte daliegt. Mich verlangt nur nach Mord und Blut und Geröchel der Sterbenden!“ Aber Odyſſeus ſprach beſänftigend zu ihm: „Erhabenſter Held aller Griechen, du biſt viel ſtärker als ich, und viel tapferer im Speerkampf; am Rathe jedoch möchte ich es dir vielleicht zuvorthun, denn ich habe länger gelebt und mehr erfahren. So füge ſich denn dießmal dein Herz meiner Ermahnung. Die Danaer müſſen ja ihre Todten nicht mit dem Bauch betrauern; wie einer geſtorben, beer¬ digt man ihn, und beweint ihn einen Tag: wer aber ent¬ ronnen iſt, der ſtärke ſich mit Trank und Speiſe, damit wir um ſo raſtloſer kämpfen mögen!“ So ſprach er, und wandelte, Neſtors Söhne, dann auch den Meges, Meriones, Thoas, Melanippus und Lykomedes ſich beigeſellend, mit dieſen der Lagerhütte Agamemnons zu. Dort nahmen ſie die verſprochenen Geſchenke, ſieben Dreifüße, zwölf Roſſe, zwanzig Becken, ſieben untadelige Weiber und die roſige Briſëis als achte. Odyſſeus wog die zehn Talente Goldes dar und ſchritt mit ihnen voran, die Jünglinge mit den andern Geſchen¬ ken folgten. So ſtellten ſie ſich in den Volkskreis; Aga¬ memnon erhub ſich von ſeinem Sitze, der Herold Talthy¬ bius aber faßte den Eber, richtete ihn zum Opfer zu, betete und zerſchnitt ihm die Kehle. Dann warf er den geſchlachteten wirbelnd in die Meerfluth, den Fiſchen zum Fraß. Nun ſtand Achilles auf und ſprach vor den Argi¬ vern: „Vater Jupiter, wie große Verblendung ſendeſt du doch oft den Männern zu! Gewiß hätte mir der Sohn des Atreus nicht den Zorn ſo fürchterlich im Herzen auf¬ geweckt, oder nicht ſo unbeugſam mit Gewalt das Mädchen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/276
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/276>, abgerufen am 28.04.2024.