Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

Pferd in die Mauern hineinziehen. Geben sich dann unsre
Feinde sorglos dem Schlummer hin, so soll er uns ein zu
verabredendes Zeichen geben, auf welches wir unsern
Schlupfwinkel verlassen, den Freunden bei Tenedos mit
einem lodernden Fackelbrande ein Signal geben und die
Stadt mit Feuer und Schwert zerstören wollen."

Als Odysseus ausgeredet, priesen alle seinen erfinde¬
rischen Verstand und zumeist lobte ihn Kalchas, der Se¬
her, dessen Sinn der schlaue Held vollkommen getroffen
hatte. Er machte auf günstige Vogelzeichen und zustim¬
mende Donnerschläge Jupiters, die sich vom Himmel
herab hören ließen, aufmerksam, und drängte die Griechen
sogleich zum Werke zu schreiten. Aber da erhub sich der
Sohn des Achilles unwillig in der Versammlung. "Kal¬
chas," sprach er, "tapfre Männer pflegen ihre Feinde in
offener Feldschlacht zu bekämpfen; mögen die Trojaner,
das Treffen vermeidend, von ihren Thürmen herab als
Feige streiten; uns aber lasset nicht auf eine List sinnen
oder auf irgend ein andres Mittel außer offenem Kampfe!
In diesem müssen wir beweisen, daß wir die besseren
Männer sind!"

So rief er, und Odysseus selbst mußte den hochsinnigen
Jüngling bewundern; doch erwiederte er ihm: "O du
edles Kind eines eben so furchtlosen Vaters, du hast
dich ausgesprochen, wie ein Held und wackerer Mann.
Aber doch konnte dein Vater selbst, der Halbgott an Muth
und Stärke, diese herrliche Veste nicht zerstören. Du siehst
also wohl, daß Tapferkeit in der Welt nicht Alles aus¬
richtet. Deßwegen beschwöre ich euch, ihr Helden, daß
ihr den Rath des Kalchas befolget und meinen Vorschlag
ohne Säumen ins Werk setzet!"

Pferd in die Mauern hineinziehen. Geben ſich dann unſre
Feinde ſorglos dem Schlummer hin, ſo ſoll er uns ein zu
verabredendes Zeichen geben, auf welches wir unſern
Schlupfwinkel verlaſſen, den Freunden bei Tenedos mit
einem lodernden Fackelbrande ein Signal geben und die
Stadt mit Feuer und Schwert zerſtören wollen.“

Als Odyſſeus ausgeredet, prieſen alle ſeinen erfinde¬
riſchen Verſtand und zumeiſt lobte ihn Kalchas, der Se¬
her, deſſen Sinn der ſchlaue Held vollkommen getroffen
hatte. Er machte auf günſtige Vogelzeichen und zuſtim¬
mende Donnerſchläge Jupiters, die ſich vom Himmel
herab hören ließen, aufmerkſam, und drängte die Griechen
ſogleich zum Werke zu ſchreiten. Aber da erhub ſich der
Sohn des Achilles unwillig in der Verſammlung. „Kal¬
chas,“ ſprach er, „tapfre Männer pflegen ihre Feinde in
offener Feldſchlacht zu bekämpfen; mögen die Trojaner,
das Treffen vermeidend, von ihren Thürmen herab als
Feige ſtreiten; uns aber laſſet nicht auf eine Liſt ſinnen
oder auf irgend ein andres Mittel außer offenem Kampfe!
In dieſem müſſen wir beweiſen, daß wir die beſſeren
Männer ſind!“

So rief er, und Odyſſeus ſelbſt mußte den hochſinnigen
Jüngling bewundern; doch erwiederte er ihm: „O du
edles Kind eines eben ſo furchtloſen Vaters, du haſt
dich ausgeſprochen, wie ein Held und wackerer Mann.
Aber doch konnte dein Vater ſelbſt, der Halbgott an Muth
und Stärke, dieſe herrliche Veſte nicht zerſtören. Du ſiehſt
alſo wohl, daß Tapferkeit in der Welt nicht Alles aus¬
richtet. Deßwegen beſchwöre ich euch, ihr Helden, daß
ihr den Rath des Kalchas befolget und meinen Vorſchlag
ohne Säumen ins Werk ſetzet!“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0426" n="404"/>
Pferd in die Mauern hineinziehen. Geben &#x017F;ich dann un&#x017F;re<lb/>
Feinde &#x017F;orglos dem Schlummer hin, &#x017F;o &#x017F;oll er uns ein zu<lb/>
verabredendes Zeichen geben, auf welches wir un&#x017F;ern<lb/>
Schlupfwinkel verla&#x017F;&#x017F;en, den Freunden bei Tenedos mit<lb/>
einem lodernden Fackelbrande ein Signal geben und die<lb/>
Stadt mit Feuer und Schwert zer&#x017F;tören wollen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Als Ody&#x017F;&#x017F;eus ausgeredet, prie&#x017F;en alle &#x017F;einen erfinde¬<lb/>
ri&#x017F;chen Ver&#x017F;tand und zumei&#x017F;t lobte ihn Kalchas, der Se¬<lb/>
her, de&#x017F;&#x017F;en Sinn der &#x017F;chlaue Held vollkommen getroffen<lb/>
hatte. Er machte auf gün&#x017F;tige Vogelzeichen und zu&#x017F;tim¬<lb/>
mende Donner&#x017F;chläge Jupiters, die &#x017F;ich vom Himmel<lb/>
herab hören ließen, aufmerk&#x017F;am, und drängte die Griechen<lb/>
&#x017F;ogleich zum Werke zu &#x017F;chreiten. Aber da erhub &#x017F;ich der<lb/>
Sohn des Achilles unwillig in der Ver&#x017F;ammlung. &#x201E;Kal¬<lb/>
chas,&#x201C; &#x017F;prach er, &#x201E;tapfre Männer pflegen ihre Feinde in<lb/>
offener Feld&#x017F;chlacht zu bekämpfen; mögen die Trojaner,<lb/>
das Treffen vermeidend, von ihren Thürmen herab als<lb/>
Feige &#x017F;treiten; uns aber la&#x017F;&#x017F;et nicht auf eine Li&#x017F;t &#x017F;innen<lb/>
oder auf irgend ein andres Mittel außer offenem Kampfe!<lb/>
In die&#x017F;em mü&#x017F;&#x017F;en wir bewei&#x017F;en, daß wir die be&#x017F;&#x017F;eren<lb/>
Männer &#x017F;ind!&#x201C;</p><lb/>
          <p>So rief er, und Ody&#x017F;&#x017F;eus &#x017F;elb&#x017F;t mußte den hoch&#x017F;innigen<lb/>
Jüngling bewundern; doch erwiederte er ihm: &#x201E;O du<lb/>
edles Kind eines eben &#x017F;o furchtlo&#x017F;en Vaters, du ha&#x017F;t<lb/>
dich ausge&#x017F;prochen, wie ein Held und wackerer Mann.<lb/>
Aber doch konnte dein Vater &#x017F;elb&#x017F;t, der Halbgott an Muth<lb/>
und Stärke, die&#x017F;e herrliche Ve&#x017F;te nicht zer&#x017F;tören. Du &#x017F;ieh&#x017F;t<lb/>
al&#x017F;o wohl, daß Tapferkeit in der Welt nicht Alles aus¬<lb/>
richtet. Deßwegen be&#x017F;chwöre ich euch, ihr Helden, daß<lb/>
ihr den Rath des Kalchas befolget und meinen Vor&#x017F;chlag<lb/>
ohne Säumen ins Werk &#x017F;etzet!&#x201C;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[404/0426] Pferd in die Mauern hineinziehen. Geben ſich dann unſre Feinde ſorglos dem Schlummer hin, ſo ſoll er uns ein zu verabredendes Zeichen geben, auf welches wir unſern Schlupfwinkel verlaſſen, den Freunden bei Tenedos mit einem lodernden Fackelbrande ein Signal geben und die Stadt mit Feuer und Schwert zerſtören wollen.“ Als Odyſſeus ausgeredet, prieſen alle ſeinen erfinde¬ riſchen Verſtand und zumeiſt lobte ihn Kalchas, der Se¬ her, deſſen Sinn der ſchlaue Held vollkommen getroffen hatte. Er machte auf günſtige Vogelzeichen und zuſtim¬ mende Donnerſchläge Jupiters, die ſich vom Himmel herab hören ließen, aufmerkſam, und drängte die Griechen ſogleich zum Werke zu ſchreiten. Aber da erhub ſich der Sohn des Achilles unwillig in der Verſammlung. „Kal¬ chas,“ ſprach er, „tapfre Männer pflegen ihre Feinde in offener Feldſchlacht zu bekämpfen; mögen die Trojaner, das Treffen vermeidend, von ihren Thürmen herab als Feige ſtreiten; uns aber laſſet nicht auf eine Liſt ſinnen oder auf irgend ein andres Mittel außer offenem Kampfe! In dieſem müſſen wir beweiſen, daß wir die beſſeren Männer ſind!“ So rief er, und Odyſſeus ſelbſt mußte den hochſinnigen Jüngling bewundern; doch erwiederte er ihm: „O du edles Kind eines eben ſo furchtloſen Vaters, du haſt dich ausgeſprochen, wie ein Held und wackerer Mann. Aber doch konnte dein Vater ſelbſt, der Halbgott an Muth und Stärke, dieſe herrliche Veſte nicht zerſtören. Du ſiehſt alſo wohl, daß Tapferkeit in der Welt nicht Alles aus¬ richtet. Deßwegen beſchwöre ich euch, ihr Helden, daß ihr den Rath des Kalchas befolget und meinen Vorſchlag ohne Säumen ins Werk ſetzet!“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/426
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/426>, abgerufen am 29.04.2024.