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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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den Zeichen, die ihm Kalypso beim Scheiden angegeben
hatte. So fuhr er siebzehn Tage durch das Meer. Am
achtzehnten erschienen ihm endlich die dunklen Gebirge
des phäakischen Landes, das sich ihm entgegenstreckte,
und trübe dalag, wie ein Schild im dunkeln Meere.
Jetzt aber ward ihn Poseidon gewahr, der eben von den
Aethiopen heimkehrte und über die Berge der Solymer
hinschritt. Er hatte der letzten Rathsversammlung der
Götter nicht beigewohnt, und merkte, daß diese seine
Entfernung benutzt hatten, den Odysseus aus der Schlinge
zu ziehen. "Nun," sprach er bei sich selbst, "er soll mir
doch noch Jammers genug erfahren !" Und jetzt ver¬
sammelte er die Wolken, regte das Meer mit dem Drei¬
zack auf, und rief die Orkane zum Kampfe mit einander
herbei, so daß Meer und Erde ganz in Dunkel gehüllt
wurden. Alle Winde pfiffen um den Floß des Odysseus
her, daß diesem Herz und Kniee zitterten, und er zu jam¬
mern anfing, daß er den Tod nicht von den Speeren
der Trojaner gefunden. Als er noch so seufzte, rauschte
eine Welle von oben herab, und der Floß gerieth in
einen Wirbel: er selbst taumelte weit von dem erschütter¬
ten Fahrzeug, das Ruder fuhr ihm aus der Hand, der
Floß war in Stücke gegangen; Mastbaum und Segel¬
stangen trieben da und dort über das tobende Meer hin.
Odysseus aber war in die Brandung untergetaucht, und
das nasse Gewand zog ihn immer tiefer hinab. Endlich
kam er wieder empor, spie das Salzwasser, das er ge¬
schluckt hatte, aus, und schwamm den Trümmern des
Flosses nach, deren größtes Stück er endlich auch glücklich
erreichte und sich mitten darauf niederließ. Wie er nun
auf dem zerrissenen Flosse dahintrieb, gleich einer Distel

den Zeichen, die ihm Kalypſo beim Scheiden angegeben
hatte. So fuhr er ſiebzehn Tage durch das Meer. Am
achtzehnten erſchienen ihm endlich die dunklen Gebirge
des phäakiſchen Landes, das ſich ihm entgegenſtreckte,
und trübe dalag, wie ein Schild im dunkeln Meere.
Jetzt aber ward ihn Poſeidon gewahr, der eben von den
Aethiopen heimkehrte und über die Berge der Solymer
hinſchritt. Er hatte der letzten Rathsverſammlung der
Götter nicht beigewohnt, und merkte, daß dieſe ſeine
Entfernung benutzt hatten, den Odyſſeus aus der Schlinge
zu ziehen. „Nun,“ ſprach er bei ſich ſelbſt, „er ſoll mir
doch noch Jammers genug erfahren !“ Und jetzt ver¬
ſammelte er die Wolken, regte das Meer mit dem Drei¬
zack auf, und rief die Orkane zum Kampfe mit einander
herbei, ſo daß Meer und Erde ganz in Dunkel gehüllt
wurden. Alle Winde pfiffen um den Floß des Odyſſeus
her, daß dieſem Herz und Kniee zitterten, und er zu jam¬
mern anfing, daß er den Tod nicht von den Speeren
der Trojaner gefunden. Als er noch ſo ſeufzte, rauſchte
eine Welle von oben herab, und der Floß gerieth in
einen Wirbel: er ſelbſt taumelte weit von dem erſchütter¬
ten Fahrzeug, das Ruder fuhr ihm aus der Hand, der
Floß war in Stücke gegangen; Maſtbaum und Segel¬
ſtangen trieben da und dort über das tobende Meer hin.
Odyſſeus aber war in die Brandung untergetaucht, und
das naſſe Gewand zog ihn immer tiefer hinab. Endlich
kam er wieder empor, ſpie das Salzwaſſer, das er ge¬
ſchluckt hatte, aus, und ſchwamm den Trümmern des
Floſſes nach, deren größtes Stück er endlich auch glücklich
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[98/0120] den Zeichen, die ihm Kalypſo beim Scheiden angegeben hatte. So fuhr er ſiebzehn Tage durch das Meer. Am achtzehnten erſchienen ihm endlich die dunklen Gebirge des phäakiſchen Landes, das ſich ihm entgegenſtreckte, und trübe dalag, wie ein Schild im dunkeln Meere. Jetzt aber ward ihn Poſeidon gewahr, der eben von den Aethiopen heimkehrte und über die Berge der Solymer hinſchritt. Er hatte der letzten Rathsverſammlung der Götter nicht beigewohnt, und merkte, daß dieſe ſeine Entfernung benutzt hatten, den Odyſſeus aus der Schlinge zu ziehen. „Nun,“ ſprach er bei ſich ſelbſt, „er ſoll mir doch noch Jammers genug erfahren !“ Und jetzt ver¬ ſammelte er die Wolken, regte das Meer mit dem Drei¬ zack auf, und rief die Orkane zum Kampfe mit einander herbei, ſo daß Meer und Erde ganz in Dunkel gehüllt wurden. Alle Winde pfiffen um den Floß des Odyſſeus her, daß dieſem Herz und Kniee zitterten, und er zu jam¬ mern anfing, daß er den Tod nicht von den Speeren der Trojaner gefunden. Als er noch ſo ſeufzte, rauſchte eine Welle von oben herab, und der Floß gerieth in einen Wirbel: er ſelbſt taumelte weit von dem erſchütter¬ ten Fahrzeug, das Ruder fuhr ihm aus der Hand, der Floß war in Stücke gegangen; Maſtbaum und Segel¬ ſtangen trieben da und dort über das tobende Meer hin. Odyſſeus aber war in die Brandung untergetaucht, und das naſſe Gewand zog ihn immer tiefer hinab. Endlich kam er wieder empor, ſpie das Salzwaſſer, das er ge¬ ſchluckt hatte, aus, und ſchwamm den Trümmern des Floſſes nach, deren größtes Stück er endlich auch glücklich erreichte und ſich mitten darauf niederließ. Wie er nun auf dem zerriſſenen Floſſe dahintrieb, gleich einer Diſtel

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/120>, abgerufen am 28.04.2024.