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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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er die edelsten Jünglinge unseres Volksstamms erschlagen.
Auf denn, ehe sich der Verbrecher hinüber auf die Pe¬
lopsinsel nach Pylos oder Elis rettet, folget ihm nach,
ergreifet ihn! Wir könnten sonst vor Schmach die Augen
nicht wieder aufschlagen. Ja für unsere spätesten Ge¬
schlechter wär' es noch eine Schande, wenn wir, ihre
Ahnen, die Mörder unserer leiblichen Söhne und Brü¬
der nicht bestraft hätten. Ich wenigstens könnte nicht
mehr mit gutem Gewissen leben: über ein kurzes, so
zöge der Schatten des Sohnes mich zu sich hinab!
Darum ihnen nach, wenn ihr Männer seyd! greifen wir
Vater und Sohn, ehe sie uns übers Meer entrinnen!"

Erbarmen ergriff die ganze Versammlung, als sie
den Mann unter Thränen also reden hörten. In diesem
Augenblicke kamen aus dem Palaste des Königes Phe¬
mius der Sänger und der Herold Medon gewandelt,
und traten auf dem Markt in den Kreis der Versam¬
melten. Die Männer staunten nicht wenig, die beiden
längst auch verloren geachteten noch am Leben zu sehen.
Hierauf erbat sich Medon der Herold das Wort, und
sprach zu dem versammelten Volk: "Männer von Ithaka,
höret meine Rede. Was Odysseus vollbracht hat, das
hat er, ich kann es euch beschwören, nicht ohne den
Rathschluß der Unsterblichen vollendet. Ich selbst habe
den Gott gesehen, der ihm in Mentors Gestalt immer
zur Seite war, und bald dem Odysseus das Herz kräf¬
tigte, bald umher tobend im Saale, die Besinnung der
Freier zerrüttete. Das Werk dieses Gottes ist es, daß
sie sterbend über einander taumelten."

Entsetzen ergriff das versammelte Volk, als es den
Herold so sprechen hörte. Als der erste Eindruck vorüber

er die edelſten Jünglinge unſeres Volksſtamms erſchlagen.
Auf denn, ehe ſich der Verbrecher hinüber auf die Pe¬
lopsinſel nach Pylos oder Elis rettet, folget ihm nach,
ergreifet ihn! Wir könnten ſonſt vor Schmach die Augen
nicht wieder aufſchlagen. Ja für unſere ſpäteſten Ge¬
ſchlechter wär' es noch eine Schande, wenn wir, ihre
Ahnen, die Mörder unſerer leiblichen Söhne und Brü¬
der nicht beſtraft hätten. Ich wenigſtens könnte nicht
mehr mit gutem Gewiſſen leben: über ein kurzes, ſo
zöge der Schatten des Sohnes mich zu ſich hinab!
Darum ihnen nach, wenn ihr Männer ſeyd! greifen wir
Vater und Sohn, ehe ſie uns übers Meer entrinnen!“

Erbarmen ergriff die ganze Verſammlung, als ſie
den Mann unter Thränen alſo reden hörten. In dieſem
Augenblicke kamen aus dem Palaſte des Königes Phe¬
mius der Sänger und der Herold Medon gewandelt,
und traten auf dem Markt in den Kreis der Verſam¬
melten. Die Männer ſtaunten nicht wenig, die beiden
längſt auch verloren geachteten noch am Leben zu ſehen.
Hierauf erbat ſich Medon der Herold das Wort, und
ſprach zu dem verſammelten Volk: „Männer von Ithaka,
höret meine Rede. Was Odyſſeus vollbracht hat, das
hat er, ich kann es euch beſchwören, nicht ohne den
Rathſchluß der Unſterblichen vollendet. Ich ſelbſt habe
den Gott geſehen, der ihm in Mentors Geſtalt immer
zur Seite war, und bald dem Odyſſeus das Herz kräf¬
tigte, bald umher tobend im Saale, die Beſinnung der
Freier zerrüttete. Das Werk dieſes Gottes iſt es, daß
ſie ſterbend über einander taumelten.“

Entſetzen ergriff das verſammelte Volk, als es den
Herold ſo ſprechen hörte. Als der erſte Eindruck vorüber

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[284/0306] er die edelſten Jünglinge unſeres Volksſtamms erſchlagen. Auf denn, ehe ſich der Verbrecher hinüber auf die Pe¬ lopsinſel nach Pylos oder Elis rettet, folget ihm nach, ergreifet ihn! Wir könnten ſonſt vor Schmach die Augen nicht wieder aufſchlagen. Ja für unſere ſpäteſten Ge¬ ſchlechter wär' es noch eine Schande, wenn wir, ihre Ahnen, die Mörder unſerer leiblichen Söhne und Brü¬ der nicht beſtraft hätten. Ich wenigſtens könnte nicht mehr mit gutem Gewiſſen leben: über ein kurzes, ſo zöge der Schatten des Sohnes mich zu ſich hinab! Darum ihnen nach, wenn ihr Männer ſeyd! greifen wir Vater und Sohn, ehe ſie uns übers Meer entrinnen!“ Erbarmen ergriff die ganze Verſammlung, als ſie den Mann unter Thränen alſo reden hörten. In dieſem Augenblicke kamen aus dem Palaſte des Königes Phe¬ mius der Sänger und der Herold Medon gewandelt, und traten auf dem Markt in den Kreis der Verſam¬ melten. Die Männer ſtaunten nicht wenig, die beiden längſt auch verloren geachteten noch am Leben zu ſehen. Hierauf erbat ſich Medon der Herold das Wort, und ſprach zu dem verſammelten Volk: „Männer von Ithaka, höret meine Rede. Was Odyſſeus vollbracht hat, das hat er, ich kann es euch beſchwören, nicht ohne den Rathſchluß der Unſterblichen vollendet. Ich ſelbſt habe den Gott geſehen, der ihm in Mentors Geſtalt immer zur Seite war, und bald dem Odyſſeus das Herz kräf¬ tigte, bald umher tobend im Saale, die Beſinnung der Freier zerrüttete. Das Werk dieſes Gottes iſt es, daß ſie ſterbend über einander taumelten.“ Entſetzen ergriff das verſammelte Volk, als es den Herold ſo ſprechen hörte. Als der erſte Eindruck vorüber

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/306>, abgerufen am 29.04.2024.