Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

in tiefer Ehrfurcht vor dem Haus Apollo's nieder, und
betete mit aufgehobenen Händen: "Gib uns, du großer
Beschützer des trojanischen Volkes, ein eigenes Haus,
gönn' uns eine bleibende Stadt; laß das Geschlecht dei¬
ner Schützlinge nicht aussterben, hilf ihnen ein zweites
Troja gründen! Sprich, wer soll unser Führer seyn?
wohin schickst du uns? Gib uns ein Zeichen, großer
Gott, offenbare dich unsern Seelen!"

Kaum hatte der Held solches gesprochen, als die
Schwelle des Gottes, der Lorbeerhain, der den Tempel
umgab, und das ganze Gebirge ringsumher sichtlich und
fühlbar erbebte, und aus den offenen Hallen des Tem¬
pels ertönte vom Dreifuße das Orakel heraus: "Aus¬
dauerndes Volk der Dardaner, ihr kehret in den Schooß
eines Landes zurück, das schon den Stamm eurer Ahn¬
herren getragen hat. Eure alte Mutter suchet ihr auf:
von dort aus wird das Haus des Aeneas in seinen spä¬
testen Enkeln alle Länder der Erde beherrschen."

Bei der Stimme des Gottes hatten sich alle demü¬
thig zur Erde niedergeworfen. Als sie den günstigen
Ausspruch vernommen hatten, sprangen sie freudig wieder
auf; ein jubelndes Getümmel entstand, und sie befragten
sich untereinander, von welchem Lande wohl Apollo
spreche, und wo den Irrenden eine neue Heimath winke.

Als sie so untereinander berathschlagten, erhob der
ehrwürdige Held Anchises, der Vater des Aeneas, der
in die Kunden der Vorwelt eingeweiht war, seine
Stimme: "Laßt mich euch, ihr Häupter des Volkes,"
sprach er, "eure Hoffnungen deuten. Mitten im inselreich¬
sten Meere liegt eine Insel, aus welcher Jupiter, der
Göttervater selbst abstammt. Sie heißt Kreta und ist

in tiefer Ehrfurcht vor dem Haus Apollo's nieder, und
betete mit aufgehobenen Händen: „Gib uns, du großer
Beſchützer des trojaniſchen Volkes, ein eigenes Haus,
gönn' uns eine bleibende Stadt; laß das Geſchlecht dei¬
ner Schützlinge nicht ausſterben, hilf ihnen ein zweites
Troja gründen! Sprich, wer ſoll unſer Führer ſeyn?
wohin ſchickſt du uns? Gib uns ein Zeichen, großer
Gott, offenbare dich unſern Seelen!“

Kaum hatte der Held ſolches geſprochen, als die
Schwelle des Gottes, der Lorbeerhain, der den Tempel
umgab, und das ganze Gebirge ringsumher ſichtlich und
fühlbar erbebte, und aus den offenen Hallen des Tem¬
pels ertönte vom Dreifuße das Orakel heraus: „Aus¬
dauerndes Volk der Dardaner, ihr kehret in den Schooß
eines Landes zurück, das ſchon den Stamm eurer Ahn¬
herren getragen hat. Eure alte Mutter ſuchet ihr auf:
von dort aus wird das Haus des Aeneas in ſeinen ſpä¬
teſten Enkeln alle Länder der Erde beherrſchen.“

Bei der Stimme des Gottes hatten ſich alle demü¬
thig zur Erde niedergeworfen. Als ſie den günſtigen
Ausſpruch vernommen hatten, ſprangen ſie freudig wieder
auf; ein jubelndes Getümmel entſtand, und ſie befragten
ſich untereinander, von welchem Lande wohl Apollo
ſpreche, und wo den Irrenden eine neue Heimath winke.

Als ſie ſo untereinander berathſchlagten, erhob der
ehrwürdige Held Anchiſes, der Vater des Aeneas, der
in die Kunden der Vorwelt eingeweiht war, ſeine
Stimme: „Laßt mich euch, ihr Häupter des Volkes,“
ſprach er, „eure Hoffnungen deuten. Mitten im inſelreich¬
ſten Meere liegt eine Inſel, aus welcher Jupiter, der
Göttervater ſelbſt abſtammt. Sie heißt Kreta und iſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0319" n="297"/>
in tiefer Ehrfurcht vor dem Haus Apollo's nieder, und<lb/>
betete mit aufgehobenen Händen: &#x201E;Gib uns, du großer<lb/>
Be&#x017F;chützer des trojani&#x017F;chen Volkes, ein eigenes Haus,<lb/>
gönn' uns eine bleibende Stadt; laß das Ge&#x017F;chlecht dei¬<lb/>
ner Schützlinge nicht aus&#x017F;terben, hilf ihnen ein zweites<lb/>
Troja gründen! Sprich, wer &#x017F;oll un&#x017F;er Führer &#x017F;eyn?<lb/>
wohin &#x017F;chick&#x017F;t du uns? Gib uns ein Zeichen, großer<lb/>
Gott, offenbare dich un&#x017F;ern Seelen!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Kaum hatte der Held &#x017F;olches ge&#x017F;prochen, als die<lb/>
Schwelle des Gottes, der Lorbeerhain, der den Tempel<lb/>
umgab, und das ganze Gebirge ringsumher &#x017F;ichtlich und<lb/>
fühlbar erbebte, und aus den offenen Hallen des Tem¬<lb/>
pels ertönte vom Dreifuße das Orakel heraus: &#x201E;Aus¬<lb/>
dauerndes Volk der Dardaner, ihr kehret in den Schooß<lb/>
eines Landes zurück, das &#x017F;chon den Stamm eurer Ahn¬<lb/>
herren getragen hat. Eure alte Mutter &#x017F;uchet ihr auf:<lb/>
von dort aus wird das Haus des Aeneas in &#x017F;einen &#x017F;pä¬<lb/>
te&#x017F;ten Enkeln alle Länder der Erde beherr&#x017F;chen.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Bei der Stimme des Gottes hatten &#x017F;ich alle demü¬<lb/>
thig zur Erde niedergeworfen. Als &#x017F;ie den gün&#x017F;tigen<lb/>
Aus&#x017F;pruch vernommen hatten, &#x017F;prangen &#x017F;ie freudig wieder<lb/>
auf; ein jubelndes Getümmel ent&#x017F;tand, und &#x017F;ie befragten<lb/>
&#x017F;ich untereinander, von welchem Lande wohl Apollo<lb/>
&#x017F;preche, und wo den Irrenden eine neue Heimath winke.</p><lb/>
            <p>Als &#x017F;ie &#x017F;o untereinander berath&#x017F;chlagten, erhob der<lb/>
ehrwürdige Held Anchi&#x017F;es, der Vater des Aeneas, der<lb/>
in die Kunden der Vorwelt eingeweiht war, &#x017F;eine<lb/>
Stimme: &#x201E;Laßt mich euch, ihr Häupter des Volkes,&#x201C;<lb/>
&#x017F;prach er, &#x201E;eure Hoffnungen deuten. Mitten im in&#x017F;elreich¬<lb/>
&#x017F;ten Meere liegt eine In&#x017F;el, aus welcher Jupiter, der<lb/>
Göttervater &#x017F;elb&#x017F;t ab&#x017F;tammt. Sie heißt Kreta und i&#x017F;t<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[297/0319] in tiefer Ehrfurcht vor dem Haus Apollo's nieder, und betete mit aufgehobenen Händen: „Gib uns, du großer Beſchützer des trojaniſchen Volkes, ein eigenes Haus, gönn' uns eine bleibende Stadt; laß das Geſchlecht dei¬ ner Schützlinge nicht ausſterben, hilf ihnen ein zweites Troja gründen! Sprich, wer ſoll unſer Führer ſeyn? wohin ſchickſt du uns? Gib uns ein Zeichen, großer Gott, offenbare dich unſern Seelen!“ Kaum hatte der Held ſolches geſprochen, als die Schwelle des Gottes, der Lorbeerhain, der den Tempel umgab, und das ganze Gebirge ringsumher ſichtlich und fühlbar erbebte, und aus den offenen Hallen des Tem¬ pels ertönte vom Dreifuße das Orakel heraus: „Aus¬ dauerndes Volk der Dardaner, ihr kehret in den Schooß eines Landes zurück, das ſchon den Stamm eurer Ahn¬ herren getragen hat. Eure alte Mutter ſuchet ihr auf: von dort aus wird das Haus des Aeneas in ſeinen ſpä¬ teſten Enkeln alle Länder der Erde beherrſchen.“ Bei der Stimme des Gottes hatten ſich alle demü¬ thig zur Erde niedergeworfen. Als ſie den günſtigen Ausſpruch vernommen hatten, ſprangen ſie freudig wieder auf; ein jubelndes Getümmel entſtand, und ſie befragten ſich untereinander, von welchem Lande wohl Apollo ſpreche, und wo den Irrenden eine neue Heimath winke. Als ſie ſo untereinander berathſchlagten, erhob der ehrwürdige Held Anchiſes, der Vater des Aeneas, der in die Kunden der Vorwelt eingeweiht war, ſeine Stimme: „Laßt mich euch, ihr Häupter des Volkes,“ ſprach er, „eure Hoffnungen deuten. Mitten im inſelreich¬ ſten Meere liegt eine Inſel, aus welcher Jupiter, der Göttervater ſelbſt abſtammt. Sie heißt Kreta und iſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/319
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/319>, abgerufen am 01.05.2024.