Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Südwind auf verborgene Klippen, drei stieß der Ostwind
von der hohen See auf seichte Sandbänke; auf eines,
das lycische Bundesgenossen mit ihrem Führer Orontes
trug, wälzte sich eine ungeheure Welle nieder, und warf den
Steuermann kopfüber ins Meer; dann drehte der Wir¬
bel das Schiff dreimal in der Runde herum, und der
Abgrund verschlang es. Auch das mächtige Schiff des
Ilioneus und Achates, das Schiff des Abas und Aletes
überwältigte der Sturm, und das Meerwasser drang durch
die lockern Fugen der Planken ein.

Jetzt endlich nahm der Meeresgott Neptunus von
dem brausenden Aufruhr Kunde, und wunderte sich über
die losgelassenen Orkane. Er erhob aus den wilden Wo¬
gen sein ruhiges Haupt, und schaute sich ringsum. Da
erblickte er das Geschwader des Aeneas allenthalben im
Meere zerstreut, und die Schiffe seiner Lieblinge, der
Trojaner, von den Wogen bedeckt und in Regengüssen
gehüllt. Auf der Stelle erkannte er den Groll und die
Ränke seiner Schwester Juno, rief den Ost und West
gebietrisch zu sich her, und sprach zu ihnen: "Was für
ein Trotz hat euer freches Geschlecht ergriffen, so ohne
meinen Befehl Himmel und Meer untereinander zu mi¬
schen, und die Wogen bis an die Sterne zu thürmen?
ich will euch! -- Doch für diesmal sey eure einzige
Strafe, die Meeresfluth auf der Stelle zu verlassen; geht
und sagt eurem Herrn, nicht ihm sey der Dreizack und
die Herrschaft über die See verliehen worden, sondern
mir; ihm gehören Felsen und Grotten, wo euer Gemach
ist; dort mag er in verschlossenem Kerker über euch herr¬
schen, bis man euch braucht!"

So sprach er, und unter dem Sprechen glättete er

Südwind auf verborgene Klippen, drei ſtieß der Oſtwind
von der hohen See auf ſeichte Sandbänke; auf eines,
das lyciſche Bundesgenoſſen mit ihrem Führer Orontes
trug, wälzte ſich eine ungeheure Welle nieder, und warf den
Steuermann kopfüber ins Meer; dann drehte der Wir¬
bel das Schiff dreimal in der Runde herum, und der
Abgrund verſchlang es. Auch das mächtige Schiff des
Ilioneus und Achates, das Schiff des Abas und Aletes
überwältigte der Sturm, und das Meerwaſſer drang durch
die lockern Fugen der Planken ein.

Jetzt endlich nahm der Meeresgott Neptunus von
dem brauſenden Aufruhr Kunde, und wunderte ſich über
die losgelaſſenen Orkane. Er erhob aus den wilden Wo¬
gen ſein ruhiges Haupt, und ſchaute ſich ringsum. Da
erblickte er das Geſchwader des Aeneas allenthalben im
Meere zerſtreut, und die Schiffe ſeiner Lieblinge, der
Trojaner, von den Wogen bedeckt und in Regengüſſen
gehüllt. Auf der Stelle erkannte er den Groll und die
Ränke ſeiner Schweſter Juno, rief den Oſt und Weſt
gebietriſch zu ſich her, und ſprach zu ihnen: „Was für
ein Trotz hat euer freches Geſchlecht ergriffen, ſo ohne
meinen Befehl Himmel und Meer untereinander zu mi¬
ſchen, und die Wogen bis an die Sterne zu thürmen?
ich will euch! — Doch für diesmal ſey eure einzige
Strafe, die Meeresfluth auf der Stelle zu verlaſſen; geht
und ſagt eurem Herrn, nicht ihm ſey der Dreizack und
die Herrſchaft über die See verliehen worden, ſondern
mir; ihm gehören Felſen und Grotten, wo euer Gemach
iſt; dort mag er in verſchloſſenem Kerker über euch herr¬
ſchen, bis man euch braucht!“

So ſprach er, und unter dem Sprechen glättete er

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0335" n="313"/>
Südwind auf verborgene Klippen, drei &#x017F;tieß der O&#x017F;twind<lb/>
von der hohen See auf &#x017F;eichte Sandbänke; auf eines,<lb/>
das lyci&#x017F;che Bundesgeno&#x017F;&#x017F;en mit ihrem Führer Orontes<lb/>
trug, wälzte &#x017F;ich eine ungeheure Welle nieder, und warf den<lb/>
Steuermann kopfüber ins Meer; dann drehte der Wir¬<lb/>
bel das Schiff dreimal in der Runde herum, und der<lb/>
Abgrund ver&#x017F;chlang es. Auch das mächtige Schiff des<lb/>
Ilioneus und Achates, das Schiff des Abas und Aletes<lb/>
überwältigte der Sturm, und das Meerwa&#x017F;&#x017F;er drang durch<lb/>
die lockern Fugen der Planken ein.</p><lb/>
            <p>Jetzt endlich nahm der Meeresgott Neptunus von<lb/>
dem brau&#x017F;enden Aufruhr Kunde, und wunderte &#x017F;ich über<lb/>
die losgela&#x017F;&#x017F;enen Orkane. Er erhob aus den wilden Wo¬<lb/>
gen &#x017F;ein ruhiges Haupt, und &#x017F;chaute &#x017F;ich ringsum. Da<lb/>
erblickte er das Ge&#x017F;chwader des Aeneas allenthalben im<lb/>
Meere zer&#x017F;treut, und die Schiffe &#x017F;einer Lieblinge, der<lb/>
Trojaner, von den Wogen bedeckt und in Regengü&#x017F;&#x017F;en<lb/>
gehüllt. Auf der Stelle erkannte er den Groll und die<lb/>
Ränke &#x017F;einer Schwe&#x017F;ter Juno, rief den O&#x017F;t und We&#x017F;t<lb/>
gebietri&#x017F;ch zu &#x017F;ich her, und &#x017F;prach zu ihnen: &#x201E;Was für<lb/>
ein Trotz hat euer freches Ge&#x017F;chlecht ergriffen, &#x017F;o ohne<lb/>
meinen Befehl Himmel und Meer untereinander zu mi¬<lb/>
&#x017F;chen, und die Wogen bis an die Sterne zu thürmen?<lb/>
ich will euch! &#x2014; Doch für diesmal &#x017F;ey eure einzige<lb/>
Strafe, die Meeresfluth auf der Stelle zu verla&#x017F;&#x017F;en; geht<lb/>
und &#x017F;agt eurem Herrn, nicht ihm &#x017F;ey der Dreizack und<lb/>
die Herr&#x017F;chaft über die See verliehen worden, &#x017F;ondern<lb/>
mir; ihm gehören Fel&#x017F;en und Grotten, wo euer Gemach<lb/>
i&#x017F;t; dort mag er in ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enem Kerker über euch herr¬<lb/>
&#x017F;chen, bis man euch braucht!&#x201C;</p><lb/>
            <p>So &#x017F;prach er, und unter dem Sprechen glättete er<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[313/0335] Südwind auf verborgene Klippen, drei ſtieß der Oſtwind von der hohen See auf ſeichte Sandbänke; auf eines, das lyciſche Bundesgenoſſen mit ihrem Führer Orontes trug, wälzte ſich eine ungeheure Welle nieder, und warf den Steuermann kopfüber ins Meer; dann drehte der Wir¬ bel das Schiff dreimal in der Runde herum, und der Abgrund verſchlang es. Auch das mächtige Schiff des Ilioneus und Achates, das Schiff des Abas und Aletes überwältigte der Sturm, und das Meerwaſſer drang durch die lockern Fugen der Planken ein. Jetzt endlich nahm der Meeresgott Neptunus von dem brauſenden Aufruhr Kunde, und wunderte ſich über die losgelaſſenen Orkane. Er erhob aus den wilden Wo¬ gen ſein ruhiges Haupt, und ſchaute ſich ringsum. Da erblickte er das Geſchwader des Aeneas allenthalben im Meere zerſtreut, und die Schiffe ſeiner Lieblinge, der Trojaner, von den Wogen bedeckt und in Regengüſſen gehüllt. Auf der Stelle erkannte er den Groll und die Ränke ſeiner Schweſter Juno, rief den Oſt und Weſt gebietriſch zu ſich her, und ſprach zu ihnen: „Was für ein Trotz hat euer freches Geſchlecht ergriffen, ſo ohne meinen Befehl Himmel und Meer untereinander zu mi¬ ſchen, und die Wogen bis an die Sterne zu thürmen? ich will euch! — Doch für diesmal ſey eure einzige Strafe, die Meeresfluth auf der Stelle zu verlaſſen; geht und ſagt eurem Herrn, nicht ihm ſey der Dreizack und die Herrſchaft über die See verliehen worden, ſondern mir; ihm gehören Felſen und Grotten, wo euer Gemach iſt; dort mag er in verſchloſſenem Kerker über euch herr¬ ſchen, bis man euch braucht!“ So ſprach er, und unter dem Sprechen glättete er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/335
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/335>, abgerufen am 05.05.2024.