Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Artemis das Mägdlein aus den Blicken der Griechen
weg, und trug sie durch das Lichtmeer des Himmels
auf ihren Armen über Meer und Land nach diesem Tau¬
rien, und ließ sie hier in ihrem eigenen Tempel nieder.
Dort fand sie der König des Barbarenvolkes, Thoas
mit Namen, und bestellte sie zur Priesterin des Dianen¬
tempels, wo sie im Dienste der Göttin des fürchterlichen
Brauches pflegen, und, wie die alte Sitte des rohen
Landes heischte, jeden Fremdling, dessen Fuß dieß Ufer
betrat, -- und meistens waren es Landsleute von ihr,
Griechen, die dieses jammervolle Loos traf, -- der
Landesgöttin opfern mußte. Indessen hatte sie nur das
Todesopfer einzuweihen. Niedrigere Diener der Göttin
mußten dasselbe sodann in das Heiligthum hinein zur
grausen Schlachtbank schleppen.

Jahre schon hatte die Jungfrau ihres traurigen
Amtes wartend, übrigens hochgehalten vom Könige und
um ihrer milden, griechischen Sitte und ihrer eigenthüm¬
lichen Liebenswürdigkeit willen verehrt vom Volke, fern
von der Heimath und gänzlich unbekannt mit den Ge¬
schicken ihres Hauses, vertrauert, als es ihr einsmals
in der Nachtruhe träumte, sie wohne fern von diesem
Barbarenstrand im heimathlichen Argos, und schlafe von
den Sklavinnen des Elternhauses umringt. Da fing
auf einmal der Rücken der Erde zu beben und zu zittern
an, und ihr war, als flöhe sie aus dem Pallaste, stände
draußen und müßte sehen und hören, wie das Dach des
Hauses zu wanken begann, und der ganze Säulenbau
bis auf den Grund erschüttert, zu Boden rasselte. Ein
einziger Pfeiler -- so dünkte ihr -- vom väterlichen
Hause blieb übrig. Mit einemmal bekam dieser Pfeiler

Artemis das Mägdlein aus den Blicken der Griechen
weg, und trug ſie durch das Lichtmeer des Himmels
auf ihren Armen über Meer und Land nach dieſem Tau¬
rien, und ließ ſie hier in ihrem eigenen Tempel nieder.
Dort fand ſie der König des Barbarenvolkes, Thoas
mit Namen, und beſtellte ſie zur Prieſterin des Dianen¬
tempels, wo ſie im Dienſte der Göttin des fürchterlichen
Brauches pflegen, und, wie die alte Sitte des rohen
Landes heiſchte, jeden Fremdling, deſſen Fuß dieß Ufer
betrat, — und meiſtens waren es Landsleute von ihr,
Griechen, die dieſes jammervolle Loos traf, — der
Landesgöttin opfern mußte. Indeſſen hatte ſie nur das
Todesopfer einzuweihen. Niedrigere Diener der Göttin
mußten daſſelbe ſodann in das Heiligthum hinein zur
grauſen Schlachtbank ſchleppen.

Jahre ſchon hatte die Jungfrau ihres traurigen
Amtes wartend, übrigens hochgehalten vom Könige und
um ihrer milden, griechiſchen Sitte und ihrer eigenthüm¬
lichen Liebenswürdigkeit willen verehrt vom Volke, fern
von der Heimath und gänzlich unbekannt mit den Ge¬
ſchicken ihres Hauſes, vertrauert, als es ihr einsmals
in der Nachtruhe träumte, ſie wohne fern von dieſem
Barbarenſtrand im heimathlichen Argos, und ſchlafe von
den Sklavinnen des Elternhauſes umringt. Da fing
auf einmal der Rücken der Erde zu beben und zu zittern
an, und ihr war, als flöhe ſie aus dem Pallaſte, ſtände
draußen und müßte ſehen und hören, wie das Dach des
Hauſes zu wanken begann, und der ganze Säulenbau
bis auf den Grund erſchüttert, zu Boden raſſelte. Ein
einziger Pfeiler — ſo dünkte ihr — vom väterlichen
Hauſe blieb übrig. Mit einemmal bekam dieſer Pfeiler

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0067" n="45"/>
Artemis das Mägdlein aus den Blicken der Griechen<lb/>
weg, und trug &#x017F;ie durch das Lichtmeer des Himmels<lb/>
auf ihren Armen über Meer und Land nach die&#x017F;em Tau¬<lb/>
rien, und ließ &#x017F;ie hier in ihrem eigenen Tempel nieder.<lb/>
Dort fand &#x017F;ie der König des Barbarenvolkes, Thoas<lb/>
mit Namen, und be&#x017F;tellte &#x017F;ie zur Prie&#x017F;terin des Dianen¬<lb/>
tempels, wo &#x017F;ie im Dien&#x017F;te der Göttin des fürchterlichen<lb/>
Brauches pflegen, und, wie die alte Sitte des rohen<lb/>
Landes hei&#x017F;chte, jeden Fremdling, de&#x017F;&#x017F;en Fuß dieß Ufer<lb/>
betrat, &#x2014; und mei&#x017F;tens waren es Landsleute von ihr,<lb/>
Griechen, die die&#x017F;es jammervolle Loos traf, &#x2014; der<lb/>
Landesgöttin opfern mußte. Inde&#x017F;&#x017F;en hatte &#x017F;ie nur das<lb/>
Todesopfer einzuweihen. Niedrigere Diener der Göttin<lb/>
mußten da&#x017F;&#x017F;elbe &#x017F;odann in das Heiligthum hinein zur<lb/>
grau&#x017F;en Schlachtbank &#x017F;chleppen.</p><lb/>
            <p>Jahre &#x017F;chon hatte die Jungfrau ihres traurigen<lb/>
Amtes wartend, übrigens hochgehalten vom Könige und<lb/>
um ihrer milden, griechi&#x017F;chen Sitte und ihrer eigenthüm¬<lb/>
lichen Liebenswürdigkeit willen verehrt vom Volke, fern<lb/>
von der Heimath und gänzlich unbekannt mit den Ge¬<lb/>
&#x017F;chicken ihres Hau&#x017F;es, vertrauert, als es ihr einsmals<lb/>
in der Nachtruhe träumte, &#x017F;ie wohne fern von die&#x017F;em<lb/>
Barbaren&#x017F;trand im heimathlichen Argos, und &#x017F;chlafe von<lb/>
den Sklavinnen des Elternhau&#x017F;es umringt. Da fing<lb/>
auf einmal der Rücken der Erde zu beben und zu zittern<lb/>
an, und ihr war, als flöhe &#x017F;ie aus dem Palla&#x017F;te, &#x017F;tände<lb/>
draußen und müßte &#x017F;ehen und hören, wie das Dach des<lb/>
Hau&#x017F;es zu wanken begann, und der ganze Säulenbau<lb/>
bis auf den Grund er&#x017F;chüttert, zu Boden ra&#x017F;&#x017F;elte. Ein<lb/>
einziger Pfeiler &#x2014; &#x017F;o dünkte ihr &#x2014; vom väterlichen<lb/>
Hau&#x017F;e blieb übrig. Mit einemmal bekam die&#x017F;er Pfeiler<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[45/0067] Artemis das Mägdlein aus den Blicken der Griechen weg, und trug ſie durch das Lichtmeer des Himmels auf ihren Armen über Meer und Land nach dieſem Tau¬ rien, und ließ ſie hier in ihrem eigenen Tempel nieder. Dort fand ſie der König des Barbarenvolkes, Thoas mit Namen, und beſtellte ſie zur Prieſterin des Dianen¬ tempels, wo ſie im Dienſte der Göttin des fürchterlichen Brauches pflegen, und, wie die alte Sitte des rohen Landes heiſchte, jeden Fremdling, deſſen Fuß dieß Ufer betrat, — und meiſtens waren es Landsleute von ihr, Griechen, die dieſes jammervolle Loos traf, — der Landesgöttin opfern mußte. Indeſſen hatte ſie nur das Todesopfer einzuweihen. Niedrigere Diener der Göttin mußten daſſelbe ſodann in das Heiligthum hinein zur grauſen Schlachtbank ſchleppen. Jahre ſchon hatte die Jungfrau ihres traurigen Amtes wartend, übrigens hochgehalten vom Könige und um ihrer milden, griechiſchen Sitte und ihrer eigenthüm¬ lichen Liebenswürdigkeit willen verehrt vom Volke, fern von der Heimath und gänzlich unbekannt mit den Ge¬ ſchicken ihres Hauſes, vertrauert, als es ihr einsmals in der Nachtruhe träumte, ſie wohne fern von dieſem Barbarenſtrand im heimathlichen Argos, und ſchlafe von den Sklavinnen des Elternhauſes umringt. Da fing auf einmal der Rücken der Erde zu beben und zu zittern an, und ihr war, als flöhe ſie aus dem Pallaſte, ſtände draußen und müßte ſehen und hören, wie das Dach des Hauſes zu wanken begann, und der ganze Säulenbau bis auf den Grund erſchüttert, zu Boden raſſelte. Ein einziger Pfeiler — ſo dünkte ihr — vom väterlichen Hauſe blieb übrig. Mit einemmal bekam dieſer Pfeiler

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/67
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/67>, abgerufen am 30.04.2024.