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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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und dieses Unwesen hatte nun schon über drei Jahre
gewährt.

Als Athene in der Gestalt des Mentes ankam, fand
sie die üppigen Freier eben an der Pforte des Hauses
mit Steineschieben beschäftigt, und diejenigen, die nicht
gerade den Stein schoben, lagen auf den Häuten von
Rindern hingestreckt, die sie selbst dem Odysseus aus den
Ställen genommen und geschlachtet hatten. Herolde und
aufwartende Diener eilten hin und her; die einen misch¬
ten in gewaltigen Krügen den Wein unter das Wasser,
andere säuberten die umhergestellten Tische mit Schwäm¬
men, und zerlegten das reichlich aufgetragene Fleisch.
Der Sohn des Hauses, Telemachus selbst, saß mit einem
Herzen voll Betrübniß unter den Freiern, und gedachte
an seinen herrlichen Vater, ob er nicht endlich käme, die
Schaaren der Frechen zu zerstreuen und sich wieder in den
Besitz seiner Habe zu setzen. Wie er die Göttin in der
Gestalt des fremden Königs erblickte, eilte er ihr an der
Pforte entgegen, faßte die Rechte des vermeintlichen Gast¬
freundes, und hieß ihn willkommen. Als sie Beide in den
gewölbten Saal des Palastes eingetreten waren, und Athene
ihre Lanze in den Speerkasten, der sich an der Hauptsäule
befand, zu den Lanzen des Odysseus gelehnt hatte, führte
Telemachus seinen Gast zu Tische an einen Thronsessel
mit schön gewirktem Polster, hieß ihn sitzen und schob
ihm einen Schemel unter die Füße; er selbst stellte seinen
Sessel neben den seinen; eine Dienerin brachte in goldener
Kanne Waschwasser für die Hände des Fremdlings; die
ehrbare Schaffnerin trug Brod und Fleisch herbei, sein
Diener zerlegte die Speisen, und um die goldenen gefüll¬
ten Becher wandelte, Wein einschenkend, der Herold. Bald

und dieſes Unweſen hatte nun ſchon über drei Jahre
gewährt.

Als Athene in der Geſtalt des Mentes ankam, fand
ſie die üppigen Freier eben an der Pforte des Hauſes
mit Steineſchieben beſchäftigt, und diejenigen, die nicht
gerade den Stein ſchoben, lagen auf den Häuten von
Rindern hingeſtreckt, die ſie ſelbſt dem Odyſſeus aus den
Ställen genommen und geſchlachtet hatten. Herolde und
aufwartende Diener eilten hin und her; die einen miſch¬
ten in gewaltigen Krügen den Wein unter das Waſſer,
andere ſäuberten die umhergeſtellten Tiſche mit Schwäm¬
men, und zerlegten das reichlich aufgetragene Fleiſch.
Der Sohn des Hauſes, Telemachus ſelbſt, ſaß mit einem
Herzen voll Betrübniß unter den Freiern, und gedachte
an ſeinen herrlichen Vater, ob er nicht endlich käme, die
Schaaren der Frechen zu zerſtreuen und ſich wieder in den
Beſitz ſeiner Habe zu ſetzen. Wie er die Göttin in der
Geſtalt des fremden Königs erblickte, eilte er ihr an der
Pforte entgegen, faßte die Rechte des vermeintlichen Gaſt¬
freundes, und hieß ihn willkommen. Als ſie Beide in den
gewölbten Saal des Palaſtes eingetreten waren, und Athene
ihre Lanze in den Speerkaſten, der ſich an der Hauptſäule
befand, zu den Lanzen des Odyſſeus gelehnt hatte, führte
Telemachus ſeinen Gaſt zu Tiſche an einen Thronſeſſel
mit ſchön gewirktem Polſter, hieß ihn ſitzen und ſchob
ihm einen Schemel unter die Füße; er ſelbſt ſtellte ſeinen
Seſſel neben den ſeinen; eine Dienerin brachte in goldener
Kanne Waſchwaſſer für die Hände des Fremdlings; die
ehrbare Schaffnerin trug Brod und Fleiſch herbei, ſein
Diener zerlegte die Speiſen, und um die goldenen gefüll¬
ten Becher wandelte, Wein einſchenkend, der Herold. Bald

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[69/0091] und dieſes Unweſen hatte nun ſchon über drei Jahre gewährt. Als Athene in der Geſtalt des Mentes ankam, fand ſie die üppigen Freier eben an der Pforte des Hauſes mit Steineſchieben beſchäftigt, und diejenigen, die nicht gerade den Stein ſchoben, lagen auf den Häuten von Rindern hingeſtreckt, die ſie ſelbſt dem Odyſſeus aus den Ställen genommen und geſchlachtet hatten. Herolde und aufwartende Diener eilten hin und her; die einen miſch¬ ten in gewaltigen Krügen den Wein unter das Waſſer, andere ſäuberten die umhergeſtellten Tiſche mit Schwäm¬ men, und zerlegten das reichlich aufgetragene Fleiſch. Der Sohn des Hauſes, Telemachus ſelbſt, ſaß mit einem Herzen voll Betrübniß unter den Freiern, und gedachte an ſeinen herrlichen Vater, ob er nicht endlich käme, die Schaaren der Frechen zu zerſtreuen und ſich wieder in den Beſitz ſeiner Habe zu ſetzen. Wie er die Göttin in der Geſtalt des fremden Königs erblickte, eilte er ihr an der Pforte entgegen, faßte die Rechte des vermeintlichen Gaſt¬ freundes, und hieß ihn willkommen. Als ſie Beide in den gewölbten Saal des Palaſtes eingetreten waren, und Athene ihre Lanze in den Speerkaſten, der ſich an der Hauptſäule befand, zu den Lanzen des Odyſſeus gelehnt hatte, führte Telemachus ſeinen Gaſt zu Tiſche an einen Thronſeſſel mit ſchön gewirktem Polſter, hieß ihn ſitzen und ſchob ihm einen Schemel unter die Füße; er ſelbſt ſtellte ſeinen Seſſel neben den ſeinen; eine Dienerin brachte in goldener Kanne Waſchwaſſer für die Hände des Fremdlings; die ehrbare Schaffnerin trug Brod und Fleiſch herbei, ſein Diener zerlegte die Speiſen, und um die goldenen gefüll¬ ten Becher wandelte, Wein einſchenkend, der Herold. Bald

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/91>, abgerufen am 28.04.2024.