Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.
Van und die Kurden. Kriegern in diesem kleinen Paradiese einige Rasttage gestattete1.Nach neueren Reisenden soll indeß der hiesige Wein unschmackhaft sein. Geschätzter ist heute noch die Tabakpflanze, die an den feuchten Ufern des Kara-Su, einem Nebenflusse des Eufrat, gedeiht und deren Blätter sogar bis Constantinopel versendet werden sollen. Malerischer, als die Stadt selbst liegen einzelne alte Kurdenburgen, früher die Wohnsitze einheimischer Feudalherren, heute von den Unter-Statthaltern der Pforte als Amtssitze benutzt ...2 Wenn wir unseren Weg gerade nach Osten verfolgen würden, 1 Wilbraham, "Trav. in Transcaucasia." 2 Die Armenier haben in Musch mehrere Kirchen, von denen die der "Vierzig Stufen" -- Keuch Vedavend -- dreizehn Jahrhunderte alt sein soll. In ihrem Besitze befindet sich auch ein uraltes Pergament, das neue Testament enthaltend, in allerlei Lumpen gehüllt, ohne aber augenschein- lich je gelesen zu werden, nicht einmal von den Priestern. (Southgate, bei Ritter, "Erdkunde", X, 677.) Die Kurden bewohnen nicht selbst die Stadt, drängen sich aber mit Vorliebe, nachdem sie die warme Jahreszeit hindurch die Landschaften ringsum heimgesucht haben, in dieselbe, um gegen eine Taxe, "Kischlak Para", zum Leidwesen der Bewohner Winter- quartiere zu beziehen. Immer bewaffnet, mit Speer, Flinte und rundem Schild, sind sie sehr unwillkommene Gäste. 3 Nach Southgate ein saracenischer mit arabischen Inschriften ver-
sehener Bau. Bitlis war während der großen Kurden-Rebellionen der politische Mittelpunkt der Bewegung, bis Hafiz Pascha von Diarbekr in jenen Gebirgsgauen gründlich aufgeräumt hatte. Die Stadt steht überdies auch in hohem Ansehen bei den Osmanen, welche deren Alter bis auf Isfendiar oder Dulkarmenien zurückführen, eine Annahme, die wir auch anderwärts in Türkisch-Asien, so zu Amasia, wiederkehren sehen. (Siehe Anhang unter "Amasia". Van und die Kurden. Kriegern in dieſem kleinen Paradieſe einige Raſttage geſtattete1.Nach neueren Reiſenden ſoll indeß der hieſige Wein unſchmackhaft ſein. Geſchätzter iſt heute noch die Tabakpflanze, die an den feuchten Ufern des Kara-Su, einem Nebenfluſſe des Eufrat, gedeiht und deren Blätter ſogar bis Conſtantinopel verſendet werden ſollen. Maleriſcher, als die Stadt ſelbſt liegen einzelne alte Kurdenburgen, früher die Wohnſitze einheimiſcher Feudalherren, heute von den Unter-Statthaltern der Pforte als Amtsſitze benutzt …2 Wenn wir unſeren Weg gerade nach Oſten verfolgen würden, 1 Wilbraham, „Trav. in Transcaucasia.“ 2 Die Armenier haben in Muſch mehrere Kirchen, von denen die der „Vierzig Stufen“ — Keuch Vedavend — dreizehn Jahrhunderte alt ſein ſoll. In ihrem Beſitze befindet ſich auch ein uraltes Pergament, das neue Teſtament enthaltend, in allerlei Lumpen gehüllt, ohne aber augenſchein- lich je geleſen zu werden, nicht einmal von den Prieſtern. (Southgate, bei Ritter, „Erdkunde“, X, 677.) Die Kurden bewohnen nicht ſelbſt die Stadt, drängen ſich aber mit Vorliebe, nachdem ſie die warme Jahreszeit hindurch die Landſchaften ringsum heimgeſucht haben, in dieſelbe, um gegen eine Taxe, „Kiſchlak Para“, zum Leidweſen der Bewohner Winter- quartiere zu beziehen. Immer bewaffnet, mit Speer, Flinte und rundem Schild, ſind ſie ſehr unwillkommene Gäſte. 3 Nach Southgate ein ſaraceniſcher mit arabiſchen Inſchriften ver-
ſehener Bau. Bitlis war während der großen Kurden-Rebellionen der politiſche Mittelpunkt der Bewegung, bis Hafiz Paſcha von Diarbekr in jenen Gebirgsgauen gründlich aufgeräumt hatte. Die Stadt ſteht überdies auch in hohem Anſehen bei den Osmanen, welche deren Alter bis auf Isfendiar oder Dulkarmenien zurückführen, eine Annahme, die wir auch anderwärts in Türkiſch-Aſien, ſo zu Amaſia, wiederkehren ſehen. (Siehe Anhang unter „Amaſia“. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0128" n="96"/><fw place="top" type="header">Van und die Kurden.</fw><lb/> Kriegern in dieſem kleinen Paradieſe einige Raſttage geſtattete<note place="foot" n="1">Wilbraham, <hi rendition="#aq">„Trav. in Transcaucasia.“</hi></note>.<lb/> Nach neueren Reiſenden ſoll indeß der hieſige Wein unſchmackhaft<lb/> ſein. Geſchätzter iſt heute noch die Tabakpflanze, die an den<lb/> feuchten Ufern des Kara-Su, einem Nebenfluſſe des Eufrat, gedeiht<lb/> und deren Blätter ſogar bis Conſtantinopel verſendet werden<lb/> ſollen. Maleriſcher, als die Stadt ſelbſt liegen einzelne alte<lb/> Kurdenburgen, früher die Wohnſitze einheimiſcher Feudalherren,<lb/> heute von den Unter-Statthaltern der Pforte als Amtsſitze<lb/> benutzt …<note place="foot" n="2">Die Armenier haben in Muſch mehrere Kirchen, von denen die der<lb/> „Vierzig Stufen“ — Keuch Vedavend — dreizehn Jahrhunderte alt ſein<lb/> ſoll. In ihrem Beſitze befindet ſich auch ein uraltes Pergament, das neue<lb/> Teſtament enthaltend, in allerlei Lumpen gehüllt, ohne aber augenſchein-<lb/> lich je geleſen zu werden, nicht einmal von den Prieſtern. (Southgate, bei<lb/> Ritter, „Erdkunde“, <hi rendition="#aq">X</hi>, 677.) Die Kurden bewohnen nicht ſelbſt die<lb/> Stadt, drängen ſich aber mit Vorliebe, nachdem ſie die warme Jahreszeit<lb/> hindurch die Landſchaften ringsum heimgeſucht haben, in dieſelbe, um<lb/> gegen eine Taxe, „Kiſchlak Para“, zum Leidweſen der Bewohner Winter-<lb/> quartiere zu beziehen. Immer bewaffnet, mit Speer, Flinte und rundem<lb/> Schild, ſind ſie ſehr unwillkommene Gäſte.</note></p><lb/> <p>Wenn wir unſeren Weg gerade nach Oſten verfolgen würden,<lb/> ſo träfen wir das Ende der Ebene dort, wo ſich der gewaltige<lb/> Nimrod-Dagh (10,000 Fuß) quer vorlegt. Von ſeinen Schnee-<lb/> wipfeln fallen die Oſtlehnen unmittelbar zum Van-See ab, deſſen<lb/> dunkelblaue Fläche nach allen Richtungen hin die Bergrieſen<lb/> ſeiner Ufer-Umrahmung widerſpiegelt. Wir folgen indeß dem<lb/> herkömmlichen Karawanenwege, der uns, nach Ueberſetzung einer<lb/> ziemlich hohen Waſſerſcheide in die Gebirgsſchlucht bringt, in<lb/> welcher die Kurdenſtadt Bitlis liegt. Sie iſt winkelig, wie die<lb/> meiſten ihrer Art, doch gibt es hier meiſtens ſolide ſteinerne<lb/> Häuſer und die Straßen ſind gepflaſtert. Auch eine alte Burg<note place="foot" n="3">Nach Southgate ein ſaraceniſcher mit arabiſchen Inſchriften ver-<lb/> ſehener Bau. Bitlis war während der großen Kurden-Rebellionen der<lb/> politiſche Mittelpunkt der Bewegung, bis Hafiz Paſcha von Diarbekr in<lb/> jenen Gebirgsgauen gründlich aufgeräumt hatte. Die Stadt ſteht überdies<lb/> auch in hohem Anſehen bei den Osmanen, welche deren Alter bis auf<lb/> Isfendiar oder Dulkarmenien zurückführen, eine Annahme, die wir auch<lb/> anderwärts in Türkiſch-Aſien, ſo zu Amaſia, wiederkehren ſehen. (Siehe<lb/> Anhang unter „Amaſia“.</note><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [96/0128]
Van und die Kurden.
Kriegern in dieſem kleinen Paradieſe einige Raſttage geſtattete 1.
Nach neueren Reiſenden ſoll indeß der hieſige Wein unſchmackhaft
ſein. Geſchätzter iſt heute noch die Tabakpflanze, die an den
feuchten Ufern des Kara-Su, einem Nebenfluſſe des Eufrat, gedeiht
und deren Blätter ſogar bis Conſtantinopel verſendet werden
ſollen. Maleriſcher, als die Stadt ſelbſt liegen einzelne alte
Kurdenburgen, früher die Wohnſitze einheimiſcher Feudalherren,
heute von den Unter-Statthaltern der Pforte als Amtsſitze
benutzt … 2
Wenn wir unſeren Weg gerade nach Oſten verfolgen würden,
ſo träfen wir das Ende der Ebene dort, wo ſich der gewaltige
Nimrod-Dagh (10,000 Fuß) quer vorlegt. Von ſeinen Schnee-
wipfeln fallen die Oſtlehnen unmittelbar zum Van-See ab, deſſen
dunkelblaue Fläche nach allen Richtungen hin die Bergrieſen
ſeiner Ufer-Umrahmung widerſpiegelt. Wir folgen indeß dem
herkömmlichen Karawanenwege, der uns, nach Ueberſetzung einer
ziemlich hohen Waſſerſcheide in die Gebirgsſchlucht bringt, in
welcher die Kurdenſtadt Bitlis liegt. Sie iſt winkelig, wie die
meiſten ihrer Art, doch gibt es hier meiſtens ſolide ſteinerne
Häuſer und die Straßen ſind gepflaſtert. Auch eine alte Burg 3
1 Wilbraham, „Trav. in Transcaucasia.“
2 Die Armenier haben in Muſch mehrere Kirchen, von denen die der
„Vierzig Stufen“ — Keuch Vedavend — dreizehn Jahrhunderte alt ſein
ſoll. In ihrem Beſitze befindet ſich auch ein uraltes Pergament, das neue
Teſtament enthaltend, in allerlei Lumpen gehüllt, ohne aber augenſchein-
lich je geleſen zu werden, nicht einmal von den Prieſtern. (Southgate, bei
Ritter, „Erdkunde“, X, 677.) Die Kurden bewohnen nicht ſelbſt die
Stadt, drängen ſich aber mit Vorliebe, nachdem ſie die warme Jahreszeit
hindurch die Landſchaften ringsum heimgeſucht haben, in dieſelbe, um
gegen eine Taxe, „Kiſchlak Para“, zum Leidweſen der Bewohner Winter-
quartiere zu beziehen. Immer bewaffnet, mit Speer, Flinte und rundem
Schild, ſind ſie ſehr unwillkommene Gäſte.
3 Nach Southgate ein ſaraceniſcher mit arabiſchen Inſchriften ver-
ſehener Bau. Bitlis war während der großen Kurden-Rebellionen der
politiſche Mittelpunkt der Bewegung, bis Hafiz Paſcha von Diarbekr in
jenen Gebirgsgauen gründlich aufgeräumt hatte. Die Stadt ſteht überdies
auch in hohem Anſehen bei den Osmanen, welche deren Alter bis auf
Isfendiar oder Dulkarmenien zurückführen, eine Annahme, die wir auch
anderwärts in Türkiſch-Aſien, ſo zu Amaſia, wiederkehren ſehen. (Siehe
Anhang unter „Amaſia“.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/128 |
| Zitationshilfe: | Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/128>, abgerufen am 07.05.2024. |
