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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Zustände im Territorium von Van. Die Nestorianer.
allmächtige "Padischah in Rum", wie die Bergvölker dort zu
sagen pflegen. Aber auch Mahmuds Macht wurde von den
Türken gebrochen, freilich ohne jedwede gute Consequenz für
die Bewohner, die mit dem gleich gewaltthätigen "Befreier" vor-
lieb nehmen mußten. Ja, die Bergvölker selbst haben durch
die Berührung mit dem officiellen Osmanenthum sittlich nur
verloren und an ihren meist naiven Charaktereigenschaften allent-
halben dann Schaden genommen, wenn sie mit der bekanntlich
ziemlich nichtsnutzigen Provinz-Bureaukratie in längeren Verkehr
geriethen. Eine Verwaltung, die ihre illegalen Maßnahmen in
tausend Kleinigkeiten documentirte, konnte das Selbstgefühl der Berg-
völker, unbeschadet ihrer eigenen mangelhaften Vorstellung von den
Begriffen Mein und Dein, nur beleidigen, und wo sie sich den Nach-
stellungen und Bedrückungen der Behörden nicht entziehen konnten,
wurden sie Heuchler, Meineidige, raffinirte Diebe und Wegelagerer.

Am schlimmsten haben sich diese Verhältnisse im Nestorianer-
Districte von Hakkari (oder Hakhiari), in der Quellregion des
großen Zarb gestaltet. Das Gebiet wird durch den Gebirgsstock
des Djebel Djudi, der sich zwischen dem genannten Strom und
den Tigris aufbaut, westwärts begrenzt und reicht gegen Osten
bis zur persischen Grenze. Dies ist die locale Abgrenzung auf
türkischem Gebiete, Nestorianer wohnen aber auch im nordwestlichen
Persien, namentlich um Urumiah und versprengte Gemeinden
findet man selbst im nördlichen Mesopotamien (bei Feyschhabur
und am Südhange des Tschaspi-Gebirges), ihrem einstigen Haupt-
sitze, aus welchem sie die Völkerstürme des Mittelalters bald
verdrängt hatten 1. Es ist bisher nur wenigen Reisenden gelungen,
ihre heutige Heimat zu durchforschen, wozu der Grund ebenso sehr
in der Unzugänglichkeit der meisten entlegenen Gebiete des Alpen-
landes zu suchen ist, wie in der Wildheit der Bewohner, an
welchem Renomme die christlichen Nestorianer und mohamme-
danischen Kurden ziemlich gleichen Antheil haben mögen. Die
einzige Passage ist überdies nur das Thal des Zarb, das die
Hauptmasse des Alpenlandes gliedert. Zu beiden Seiten des-
selben liegen die gefährlichen Schlupfwinkel der Leihun-Kurden
und dieser wilde Stamm war es, der einen Bedr-Khan hervor-

1 J. Braun, "Gemälde d. moh.Welt", 183. Vgl.Badgar, "The Nestorians"

Zuſtände im Territorium von Van. Die Neſtorianer.
allmächtige „Padiſchah in Rum“, wie die Bergvölker dort zu
ſagen pflegen. Aber auch Mahmuds Macht wurde von den
Türken gebrochen, freilich ohne jedwede gute Conſequenz für
die Bewohner, die mit dem gleich gewaltthätigen „Befreier“ vor-
lieb nehmen mußten. Ja, die Bergvölker ſelbſt haben durch
die Berührung mit dem officiellen Osmanenthum ſittlich nur
verloren und an ihren meiſt naiven Charaktereigenſchaften allent-
halben dann Schaden genommen, wenn ſie mit der bekanntlich
ziemlich nichtsnutzigen Provinz-Bureaukratie in längeren Verkehr
geriethen. Eine Verwaltung, die ihre illegalen Maßnahmen in
tauſend Kleinigkeiten documentirte, konnte das Selbſtgefühl der Berg-
völker, unbeſchadet ihrer eigenen mangelhaften Vorſtellung von den
Begriffen Mein und Dein, nur beleidigen, und wo ſie ſich den Nach-
ſtellungen und Bedrückungen der Behörden nicht entziehen konnten,
wurden ſie Heuchler, Meineidige, raffinirte Diebe und Wegelagerer.

Am ſchlimmſten haben ſich dieſe Verhältniſſe im Neſtorianer-
Diſtricte von Hakkari (oder Hakhiari), in der Quellregion des
großen Zarb geſtaltet. Das Gebiet wird durch den Gebirgsſtock
des Djebel Djudi, der ſich zwiſchen dem genannten Strom und
den Tigris aufbaut, weſtwärts begrenzt und reicht gegen Oſten
bis zur perſiſchen Grenze. Dies iſt die locale Abgrenzung auf
türkiſchem Gebiete, Neſtorianer wohnen aber auch im nordweſtlichen
Perſien, namentlich um Urumiah und verſprengte Gemeinden
findet man ſelbſt im nördlichen Meſopotamien (bei Feyſchhabur
und am Südhange des Tſchaspi-Gebirges), ihrem einſtigen Haupt-
ſitze, aus welchem ſie die Völkerſtürme des Mittelalters bald
verdrängt hatten 1. Es iſt bisher nur wenigen Reiſenden gelungen,
ihre heutige Heimat zu durchforſchen, wozu der Grund ebenſo ſehr
in der Unzugänglichkeit der meiſten entlegenen Gebiete des Alpen-
landes zu ſuchen iſt, wie in der Wildheit der Bewohner, an
welchem Renommé die chriſtlichen Neſtorianer und mohamme-
daniſchen Kurden ziemlich gleichen Antheil haben mögen. Die
einzige Paſſage iſt überdies nur das Thal des Zarb, das die
Hauptmaſſe des Alpenlandes gliedert. Zu beiden Seiten des-
ſelben liegen die gefährlichen Schlupfwinkel der Leihun-Kurden
und dieſer wilde Stamm war es, der einen Bedr-Khan hervor-

1 J. Braun, „Gemälde d. moh.Welt“, 183. Vgl.Badgar, „The Nestorians“
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[101/0133] Zuſtände im Territorium von Van. Die Neſtorianer. allmächtige „Padiſchah in Rum“, wie die Bergvölker dort zu ſagen pflegen. Aber auch Mahmuds Macht wurde von den Türken gebrochen, freilich ohne jedwede gute Conſequenz für die Bewohner, die mit dem gleich gewaltthätigen „Befreier“ vor- lieb nehmen mußten. Ja, die Bergvölker ſelbſt haben durch die Berührung mit dem officiellen Osmanenthum ſittlich nur verloren und an ihren meiſt naiven Charaktereigenſchaften allent- halben dann Schaden genommen, wenn ſie mit der bekanntlich ziemlich nichtsnutzigen Provinz-Bureaukratie in längeren Verkehr geriethen. Eine Verwaltung, die ihre illegalen Maßnahmen in tauſend Kleinigkeiten documentirte, konnte das Selbſtgefühl der Berg- völker, unbeſchadet ihrer eigenen mangelhaften Vorſtellung von den Begriffen Mein und Dein, nur beleidigen, und wo ſie ſich den Nach- ſtellungen und Bedrückungen der Behörden nicht entziehen konnten, wurden ſie Heuchler, Meineidige, raffinirte Diebe und Wegelagerer. Am ſchlimmſten haben ſich dieſe Verhältniſſe im Neſtorianer- Diſtricte von Hakkari (oder Hakhiari), in der Quellregion des großen Zarb geſtaltet. Das Gebiet wird durch den Gebirgsſtock des Djebel Djudi, der ſich zwiſchen dem genannten Strom und den Tigris aufbaut, weſtwärts begrenzt und reicht gegen Oſten bis zur perſiſchen Grenze. Dies iſt die locale Abgrenzung auf türkiſchem Gebiete, Neſtorianer wohnen aber auch im nordweſtlichen Perſien, namentlich um Urumiah und verſprengte Gemeinden findet man ſelbſt im nördlichen Meſopotamien (bei Feyſchhabur und am Südhange des Tſchaspi-Gebirges), ihrem einſtigen Haupt- ſitze, aus welchem ſie die Völkerſtürme des Mittelalters bald verdrängt hatten 1. Es iſt bisher nur wenigen Reiſenden gelungen, ihre heutige Heimat zu durchforſchen, wozu der Grund ebenſo ſehr in der Unzugänglichkeit der meiſten entlegenen Gebiete des Alpen- landes zu ſuchen iſt, wie in der Wildheit der Bewohner, an welchem Renommé die chriſtlichen Neſtorianer und mohamme- daniſchen Kurden ziemlich gleichen Antheil haben mögen. Die einzige Paſſage iſt überdies nur das Thal des Zarb, das die Hauptmaſſe des Alpenlandes gliedert. Zu beiden Seiten des- ſelben liegen die gefährlichen Schlupfwinkel der Leihun-Kurden und dieſer wilde Stamm war es, der einen Bedr-Khan hervor- 1 J. Braun, „Gemälde d. moh.Welt“, 183. Vgl.Badgar, „The Nestorians“

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/133>, abgerufen am 07.05.2024.