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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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bedenke, wie anders die rhythmische Gliederung ist, wenn man pse_191.002
die Goetheverse:

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Wie herrlich leuchtet pse_191.004
Mir die Natur! pse_191.005
Wie glänzt die Sonne, pse_191.006
Wie lacht die Flur!
(Mailied)

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so schreibt:

pse_191.008
Wie herrlich leuchtet mir die Natur pse_191.009
Wie glänzt die Sonne, wie lacht die Flur!
pse_191.010

Die innere Bewegtheit ist beide Male eine ganz andere. Die pse_191.011
höchsten Gliederungsformen sind der Absatz ohne feste Verszahl pse_191.012
und die Strophe mit fester Verszahl: eine in sich geschlossene pse_191.013
und wiederkehrende Versgruppe, in der vielfach pse_191.014
der Reim mitwirkt.

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Das im Grunde jedes Gedichts mitschwingende Schema pse_191.016
rhythmischer Geordnetheit, das Metrum, ist ablösbar (man pse_191.017
kann es mit Zeichen festlegen), daher anwendbar und dadurch pse_191.018
konventionalisierbar. Aber trotzdem müssen wir festhalten, pse_191.019
daß diese Schemata einen bestimmten Charakter haben und pse_191.020
damit eine Gestaltung aus dem Inneren ermöglichen. Wichtiger pse_191.021
aber als diese Ablösbarkeit ist die Frage: Wie wird dieses pse_191.022
metrische Schema sprachlich erfüllt? Damit berühren wir erst pse_191.023
den Bau des Schemas und seinen Stilwert. Denn zwischen pse_191.024
dem Schema und der sprachlichen Erfüllung gibt es die verschiedensten pse_191.025
Beziehungen.

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Voraussetzung dafür, die sprachliche Erfüllung des Schemas pse_191.027
in ihren Stilwerten zu erkennen, ist es, daß wir das Schema pse_191.028
selbst haben. Man kann beobachten, daß man im Erfassen der pse_191.029
künstlerischen Form eines Gedichts unruhig und unsicher ist, pse_191.030
bis einem das Metrum aufgeht, in dem es gebaut ist. Hat man pse_191.031
das Metrum erfaßt, dann tritt eine Art Lösung ein, sogar eine pse_191.032
gewisse Beruhigung. Das Metrum klingt dann mit und gibt pse_191.033
dem Ganzen einen Rahmen. Aber es ist nicht immer einfach, pse_191.034
es zu finden, und gerade solche Unsicherheiten führen wieder pse_191.035
zu Stilfragen. Eine erste ist schon die Frage des fallenden und pse_191.036
steigenden Rhythmus. Manche glauben, dem Deutschen pse_191.037
eigne nur der fallende Rhythmus, es gebe also nur Auftakte pse_191.038
am Versbeginn, nur Trochäen und Daktylen. Aber man kann

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bedenke, wie anders die rhythmische Gliederung ist, wenn man pse_191.002
die Goetheverse:

pse_191.003

Wie herrlich leuchtet pse_191.004
Mir die Natur! pse_191.005
Wie glänzt die Sonne, pse_191.006
Wie lacht die Flur!
(Mailied)

pse_191.007

so schreibt:

pse_191.008
Wie herrlich leuchtet mir die Natur pse_191.009
Wie glänzt die Sonne, wie lacht die Flur!
pse_191.010

Die innere Bewegtheit ist beide Male eine ganz andere. Die pse_191.011
höchsten Gliederungsformen sind der Absatz ohne feste Verszahl pse_191.012
und die Strophe mit fester Verszahl: eine in sich geschlossene pse_191.013
und wiederkehrende Versgruppe, in der vielfach pse_191.014
der Reim mitwirkt.

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Das im Grunde jedes Gedichts mitschwingende Schema pse_191.016
rhythmischer Geordnetheit, das Metrum, ist ablösbar (man pse_191.017
kann es mit Zeichen festlegen), daher anwendbar und dadurch pse_191.018
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aber als diese Ablösbarkeit ist die Frage: Wie wird dieses pse_191.022
metrische Schema sprachlich erfüllt? Damit berühren wir erst pse_191.023
den Bau des Schemas und seinen Stilwert. Denn zwischen pse_191.024
dem Schema und der sprachlichen Erfüllung gibt es die verschiedensten pse_191.025
Beziehungen.

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Voraussetzung dafür, die sprachliche Erfüllung des Schemas pse_191.027
in ihren Stilwerten zu erkennen, ist es, daß wir das Schema pse_191.028
selbst haben. Man kann beobachten, daß man im Erfassen der pse_191.029
künstlerischen Form eines Gedichts unruhig und unsicher ist, pse_191.030
bis einem das Metrum aufgeht, in dem es gebaut ist. Hat man pse_191.031
das Metrum erfaßt, dann tritt eine Art Lösung ein, sogar eine pse_191.032
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dem Ganzen einen Rahmen. Aber es ist nicht immer einfach, pse_191.034
es zu finden, und gerade solche Unsicherheiten führen wieder pse_191.035
zu Stilfragen. Eine erste ist schon die Frage des fallenden und pse_191.036
steigenden Rhythmus. Manche glauben, dem Deutschen pse_191.037
eigne nur der fallende Rhythmus, es gebe also nur Auftakte pse_191.038
am Versbeginn, nur Trochäen und Daktylen. Aber man kann

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/207>, abgerufen am 30.04.2024.