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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Bildes und der Weg zum Vergleich vor. 2. Es entwickelt sich pse_214.002
ein Zueinander von Bildern, entweder Ketten von gleichgeordneten pse_214.003
Bildern oder gliedhafte Fügungen. 3. Einmal geprägte pse_214.004
sprachliche Bilder können wiederholt werden, vom pse_214.005
selben Dichter oder dann dauernd von anderen. Zuerst nimmt pse_214.006
man ihn zum Muster, dann vergißt man ihn -- und das Bild pse_214.007
wird zur Formel. Das kann so weit gehen, daß alles Sprachkünstlerische pse_214.008
verschwindet. Das ursprüngliche Bild wird pse_214.009
konventionalisiert und endlich zum bloßen Begriffszeichen pse_214.010
in der Alltagssprache; man denke an den ursprünglich bildhaften pse_214.011
Sinn von Würfel, Begriff, verheeren. Im Bereich der pse_214.012
Sprachkunst aber bilden sich bestimmte Formen von Bildern pse_214.013
aus, die dann bei gewissen Gelegenheiten verwendet werden: pse_214.014
die sogenannten rhetorischen Figuren. Man kann sie mit den pse_214.015
üblichen Schmuckformen in der Architektur vergleichen, pse_214.016
den Fruchtschnüren, Girlanden usw. So wie diese unterscheiden pse_214.017
sich die rhetorischen Figuren von wissenschaftlichen Formeln, pse_214.018
daß sie rein als Gebilde einen Wert haben und nicht pse_214.019
bloß einen Nutzen als Zeichen. Sie haben eine gewisse Fülle pse_214.020
und einen inneren Gehalt. Die rhetorischen Figuren bildeten pse_214.021
sich aus ursprünglichen sprachlichen Bildern, sie wurden pse_214.022
Schmuckformen, die bei bestimmten Gelegenheiten nach den pse_214.023
Lehren der Rhetorik und Stilistik zu verwenden waren, um pse_214.024
die Sprachgebung auf höhere, wirkungsvollere Ebene zu pse_214.025
heben. [Annotation]

Die Gefahr ist die Verflachung, der Verlust an Gehalt. pse_214.026
Die Aufgabe des Dichters bleibt ihnen gegenüber immer die, pse_214.027
ihnen aus dem jeweiligen sprachlichen Zusammenhang neues pse_214.028
Leben einzuhauchen, gleichsam den schöpferischen Augenblick pse_214.029
zu erneuern, aus dem sie entstanden sind. [Annotation] Eine dieser pse_214.030
Figuren ist die sogenannte Metapher. Damit erscheint das pse_214.031
Wort in zweiter Bedeutung in der Poetik. Wir meinen jetzt pse_214.032
damit die Tatsache, daß ein Wort nicht in seinem gewöhnlichen pse_214.033
Sinn verwendet wird: [Annotation] das Feuer der Liebe. Aus dem pse_214.034
Gehalt des Wortes Feuer muß manches gestrichen werden, pse_214.035
was in diesem Zusammenhang störend wäre: der Geruch, pse_214.036
das Chemische usw. Aber in einem von einem echten Dichter pse_214.037
geschaffenen Sprachzusammenhang kann der Zusammenklang pse_214.038
der beiden Wortgehalte neue Stimmung wecken. [Annotation] Die

pse_214.001
Bildes und der Weg zum Vergleich vor. 2. Es entwickelt sich pse_214.002
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selben Dichter oder dann dauernd von anderen. Zuerst nimmt pse_214.006
man ihn zum Muster, dann vergißt man ihn — und das Bild pse_214.007
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verschwindet. Das ursprüngliche Bild wird pse_214.009
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Sinn von Würfel, Begriff, verheeren. Im Bereich der pse_214.012
Sprachkunst aber bilden sich bestimmte Formen von Bildern pse_214.013
aus, die dann bei gewissen Gelegenheiten verwendet werden: pse_214.014
die sogenannten rhetorischen Figuren. Man kann sie mit den pse_214.015
üblichen Schmuckformen in der Architektur vergleichen, pse_214.016
den Fruchtschnüren, Girlanden usw. So wie diese unterscheiden pse_214.017
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sich aus ursprünglichen sprachlichen Bildern, sie wurden pse_214.022
Schmuckformen, die bei bestimmten Gelegenheiten nach den pse_214.023
Lehren der Rhetorik und Stilistik zu verwenden waren, um pse_214.024
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heben. [Annotation]

Die Gefahr ist die Verflachung, der Verlust an Gehalt. pse_214.026
Die Aufgabe des Dichters bleibt ihnen gegenüber immer die, pse_214.027
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Leben einzuhauchen, gleichsam den schöpferischen Augenblick pse_214.029
zu erneuern, aus dem sie entstanden sind. [Annotation] Eine dieser pse_214.030
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[214/0230] pse_214.001 Bildes und der Weg zum Vergleich vor. 2. Es entwickelt sich pse_214.002 ein Zueinander von Bildern, entweder Ketten von gleichgeordneten pse_214.003 Bildern oder gliedhafte Fügungen. 3. Einmal geprägte pse_214.004 sprachliche Bilder können wiederholt werden, vom pse_214.005 selben Dichter oder dann dauernd von anderen. Zuerst nimmt pse_214.006 man ihn zum Muster, dann vergißt man ihn — und das Bild pse_214.007 wird zur Formel. Das kann so weit gehen, daß alles Sprachkünstlerische pse_214.008 verschwindet. Das ursprüngliche Bild wird pse_214.009 konventionalisiert und endlich zum bloßen Begriffszeichen pse_214.010 in der Alltagssprache; man denke an den ursprünglich bildhaften pse_214.011 Sinn von Würfel, Begriff, verheeren. Im Bereich der pse_214.012 Sprachkunst aber bilden sich bestimmte Formen von Bildern pse_214.013 aus, die dann bei gewissen Gelegenheiten verwendet werden: pse_214.014 die sogenannten rhetorischen Figuren. Man kann sie mit den pse_214.015 üblichen Schmuckformen in der Architektur vergleichen, pse_214.016 den Fruchtschnüren, Girlanden usw. So wie diese unterscheiden pse_214.017 sich die rhetorischen Figuren von wissenschaftlichen Formeln, pse_214.018 daß sie rein als Gebilde einen Wert haben und nicht pse_214.019 bloß einen Nutzen als Zeichen. Sie haben eine gewisse Fülle pse_214.020 und einen inneren Gehalt. Die rhetorischen Figuren bildeten pse_214.021 sich aus ursprünglichen sprachlichen Bildern, sie wurden pse_214.022 Schmuckformen, die bei bestimmten Gelegenheiten nach den pse_214.023 Lehren der Rhetorik und Stilistik zu verwenden waren, um pse_214.024 die Sprachgebung auf höhere, wirkungsvollere Ebene zu pse_214.025 heben. Die Gefahr ist die Verflachung, der Verlust an Gehalt. pse_214.026 Die Aufgabe des Dichters bleibt ihnen gegenüber immer die, pse_214.027 ihnen aus dem jeweiligen sprachlichen Zusammenhang neues pse_214.028 Leben einzuhauchen, gleichsam den schöpferischen Augenblick pse_214.029 zu erneuern, aus dem sie entstanden sind. Eine dieser pse_214.030 Figuren ist die sogenannte Metapher. Damit erscheint das pse_214.031 Wort in zweiter Bedeutung in der Poetik. Wir meinen jetzt pse_214.032 damit die Tatsache, daß ein Wort nicht in seinem gewöhnlichen pse_214.033 Sinn verwendet wird: das Feuer der Liebe. Aus dem pse_214.034 Gehalt des Wortes Feuer muß manches gestrichen werden, pse_214.035 was in diesem Zusammenhang störend wäre: der Geruch, pse_214.036 das Chemische usw. Aber in einem von einem echten Dichter pse_214.037 geschaffenen Sprachzusammenhang kann der Zusammenklang pse_214.038 der beiden Wortgehalte neue Stimmung wecken. Die

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/230>, abgerufen am 30.04.2024.