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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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durch eine bestimmte bildhafte Umgrenztheit ausgezeichnet. pse_220.002
Symbole sind nie aus dem dichterischen Zusammenhang lösbar, pse_220.003
wenn nicht etwas an ihnen verlorengehen soll. Ihre pse_220.004
Struktur geht nach doppelter Richtung: sie geben eine konkrete pse_220.005
Situation, wie hier die zwei Verdammten, die auf einem pse_220.006
Brett den dunklen Strom hinabtreiben, aber eben in ihr zugleich pse_220.007
das Allgemeine, hier des Menschenhasses. Die Symbole pse_220.008
schaffen die Phänomene, um deren Deutung es geht, selbst. pse_220.009
So erschließt sich der tiefere Sinn nur aus dem geschaffenen pse_220.010
Bild, das immer Bild bleibt und doch auch durch sich hindurch pse_220.011
weist. Auch die Unterscheidung von sprachlichen und pse_220.012
anderen Symbolen in der Dichtung haben wir an der Stelle pse_220.013
schon erwähnt.

pse_220.014
Hier betrachten wir nur kurz die Möglichkeiten der symbolischen pse_220.015
Erhöhung der sprachlichen Bilder. Zunächst die pse_220.016
Entstehung des sprachlichen Symbols aus dem Bild überhaupt.

pse_220.017
pse_220.018

Herber Wind über braunen Hügeln. pse_220.019
Fahriger Frühling bebt pse_220.020
Schluchzend ins Gras. pse_220.021
Wolken ziehn an lässigen Zügeln pse_220.022
Durch einen Himmel aus blauem Glas. pse_220.023
Vom Weiher auf, vom Birkenhag pse_220.024
Ein Reiher pse_220.025
Sich in die Frühe hebt pse_220.026
Mit wunderschmächtigen Flügeln. pse_220.027
In seinem trunkenen Schwingenschlag pse_220.028
Aufbrandet, Feuer um Feuer, pse_220.029
Der junge Tag.
pse_220.030
   (Weinheber, Menschliche Landschaften)

pse_220.031

Schon das Landschaftsbild des Anfangs ist sprachmächtig. In pse_220.032
der Mitte steht allein das Wort "Reiher": so ist es deutlich pse_220.033
herausgehoben, vor allem auch durch den Rhythmus. Das pse_220.034
Bild vom aufsteigenden Reiher, das dem Gedicht die Höhe pse_220.035
gibt, faßt das Vorangehende stimmungsmäßig zusammen. pse_220.036
Dazu tritt nun die Wirkung des Titels: "Jüngling". So erleben pse_220.037
wir, wie im Bild des Reihers das tiefere Sein des jungen pse_220.038
Menschen Gestalt wird, ohne deutlich ausgesprochen zu sein. pse_220.039
Zugleich vollzieht sich eine Vertiefung des Landschaftsbildes: pse_220.040
auch es wird sinnbildhaft für den jungen Menschen, so daß

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durch eine bestimmte bildhafte Umgrenztheit ausgezeichnet. pse_220.002
Symbole sind nie aus dem dichterischen Zusammenhang lösbar, pse_220.003
wenn nicht etwas an ihnen verlorengehen soll. Ihre pse_220.004
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Bild, das immer Bild bleibt und doch auch durch sich hindurch pse_220.011
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anderen Symbolen in der Dichtung haben wir an der Stelle pse_220.013
schon erwähnt.

pse_220.014
Hier betrachten wir nur kurz die Möglichkeiten der symbolischen pse_220.015
Erhöhung der sprachlichen Bilder. Zunächst die pse_220.016
Entstehung des sprachlichen Symbols aus dem Bild überhaupt.

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Fahriger Frühling bebt pse_220.020
Schluchzend ins Gras. pse_220.021
Wolken ziehn an lässigen Zügeln pse_220.022
Durch einen Himmel aus blauem Glas. pse_220.023
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Ein Reiher pse_220.025
Sich in die Frühe hebt pse_220.026
Mit wunderschmächtigen Flügeln. pse_220.027
In seinem trunkenen Schwingenschlag pse_220.028
Aufbrandet, Feuer um Feuer, pse_220.029
Der junge Tag.
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   (Weinheber, Menschliche Landschaften)

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Schon das Landschaftsbild des Anfangs ist sprachmächtig. In pse_220.032
der Mitte steht allein das Wort »Reiher«: so ist es deutlich pse_220.033
herausgehoben, vor allem auch durch den Rhythmus. Das pse_220.034
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[220/0236] pse_220.001 durch eine bestimmte bildhafte Umgrenztheit ausgezeichnet. pse_220.002 Symbole sind nie aus dem dichterischen Zusammenhang lösbar, pse_220.003 wenn nicht etwas an ihnen verlorengehen soll. Ihre pse_220.004 Struktur geht nach doppelter Richtung: sie geben eine konkrete pse_220.005 Situation, wie hier die zwei Verdammten, die auf einem pse_220.006 Brett den dunklen Strom hinabtreiben, aber eben in ihr zugleich pse_220.007 das Allgemeine, hier des Menschenhasses. Die Symbole pse_220.008 schaffen die Phänomene, um deren Deutung es geht, selbst. pse_220.009 So erschließt sich der tiefere Sinn nur aus dem geschaffenen pse_220.010 Bild, das immer Bild bleibt und doch auch durch sich hindurch pse_220.011 weist. Auch die Unterscheidung von sprachlichen und pse_220.012 anderen Symbolen in der Dichtung haben wir an der Stelle pse_220.013 schon erwähnt. pse_220.014 Hier betrachten wir nur kurz die Möglichkeiten der symbolischen pse_220.015 Erhöhung der sprachlichen Bilder. Zunächst die pse_220.016 Entstehung des sprachlichen Symbols aus dem Bild überhaupt. pse_220.017 pse_220.018 Herber Wind über braunen Hügeln. pse_220.019 Fahriger Frühling bebt pse_220.020 Schluchzend ins Gras. pse_220.021 Wolken ziehn an lässigen Zügeln pse_220.022 Durch einen Himmel aus blauem Glas. pse_220.023 Vom Weiher auf, vom Birkenhag pse_220.024 Ein Reiher pse_220.025 Sich in die Frühe hebt pse_220.026 Mit wunderschmächtigen Flügeln. pse_220.027 In seinem trunkenen Schwingenschlag pse_220.028 Aufbrandet, Feuer um Feuer, pse_220.029 Der junge Tag. pse_220.030 (Weinheber, Menschliche Landschaften) pse_220.031 Schon das Landschaftsbild des Anfangs ist sprachmächtig. In pse_220.032 der Mitte steht allein das Wort »Reiher«: so ist es deutlich pse_220.033 herausgehoben, vor allem auch durch den Rhythmus. Das pse_220.034 Bild vom aufsteigenden Reiher, das dem Gedicht die Höhe pse_220.035 gibt, faßt das Vorangehende stimmungsmäßig zusammen. pse_220.036 Dazu tritt nun die Wirkung des Titels: »Jüngling«. So erleben pse_220.037 wir, wie im Bild des Reihers das tiefere Sein des jungen pse_220.038 Menschen Gestalt wird, ohne deutlich ausgesprochen zu sein. pse_220.039 Zugleich vollzieht sich eine Vertiefung des Landschaftsbildes: pse_220.040 auch es wird sinnbildhaft für den jungen Menschen, so daß

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/236>, abgerufen am 30.04.2024.