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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Sachdarstellung, die an sich eben nicht Sprachkunst ist, im pse_227.002
Rahmen einer Dichtung sprachkünstlerisch bedeutsam sein pse_227.003
kann. Solche Stellen können in die hochgespannte Sprachgestalt pse_227.004
Abwechslung, ein gewisses Ausruhen bringen. Vor pse_227.005
allem aber schaffen sie Kühle. Und gerade das ist ja auch Gestaltung pse_227.006
einer inneren Haltung. Oft wirkt die verstandesklare pse_227.007
Schärfe eines Sprachgebildes stark, besonders in Dramen pse_227.008
kann so die Haltung eines Menschen deutlich zum Ausdruck pse_227.009
kommen. Lessing hebt so oft die Sachdarstellung zu sprachkünstlerischer pse_227.010
Bedeutung. Sachdarstellung kann auch ernüchternd pse_227.011
wirken und damit geradezu komisch sein. Wenn in die pse_227.012
höhere Ebene rhythmischer und metrischer Gestaltung plötzlich pse_227.013
der nüchternste Alltag durch die sprachliche Formung pse_227.014
bricht, dann spüren wir die Fallhöhe, die Entlarvung eines zu pse_227.015
Unrecht bestehenden Anspruchs sogar in der sprachkünstlerischen pse_227.016
Gestaltung, indem eben diese plötzlich durch Sachdarstellung pse_227.017
verdrängt wird. So die komische Entlarvung pse_227.018
möglicher Wichtigtuerei in den Versen Erich Kästners:

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Zusammenfassend läßt sich etwa sagen: pse_227.020
Ich kam zur Welt und lebte trotzdem weiter.

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Das Zusammenwirken der Stilkräfte ist auch entscheidend pse_227.022
für Einheit oder Zerrissenheit des Stils in einer Dichtung. Freilich pse_227.023
darf hier kein engherziger Standpunkt eingenommen pse_227.024
werden. Wir werden auch bei der Frage der Gesamtgestalt pse_227.025
einer Dichtung erkennen, daß die Spannweite sehr groß sein pse_227.026
kann. In umfangreichen Kunstwerken kann eine sehr gegensätzliche pse_227.027
Menge von Stilarten und Stilformen doch unter eine pse_227.028
Einheit gebracht werden, man denke an Faust II. Oft erscheint pse_227.029
erst im Ergebnis der Zusammenklang: in Claudels pse_227.030
"Soulier de satin" empfangen alle Stilzüge ihre Einheit erst pse_227.031
unter dem katholischen Weltblick des Werks, als eingebaut in pse_227.032
die Fülle der Welt, in der sich immer wieder Gottes Lenkung pse_227.033
zeigt. Von Stilbruch und Zerreißung des Stils sprechen wir pse_227.034
aber bei starkem Wechsel oder bei Aussetzen der Gemütshaltung, pse_227.035
die nicht aus dem Gesamten zu erklären ist. "... da pse_227.036
wischte sich der Senator die Stirn, die aus Gründen einer sehr pse_227.037
zusammengesetzten Erregung feucht geworden war" (Werfel,

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Sachdarstellung, die an sich eben nicht Sprachkunst ist, im pse_227.002
Rahmen einer Dichtung sprachkünstlerisch bedeutsam sein pse_227.003
kann. Solche Stellen können in die hochgespannte Sprachgestalt pse_227.004
Abwechslung, ein gewisses Ausruhen bringen. Vor pse_227.005
allem aber schaffen sie Kühle. Und gerade das ist ja auch Gestaltung pse_227.006
einer inneren Haltung. Oft wirkt die verstandesklare pse_227.007
Schärfe eines Sprachgebildes stark, besonders in Dramen pse_227.008
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kommen. Lessing hebt so oft die Sachdarstellung zu sprachkünstlerischer pse_227.010
Bedeutung. Sachdarstellung kann auch ernüchternd pse_227.011
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der nüchternste Alltag durch die sprachliche Formung pse_227.014
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Unrecht bestehenden Anspruchs sogar in der sprachkünstlerischen pse_227.016
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möglicher Wichtigtuerei in den Versen Erich Kästners:

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Zusammenfassend läßt sich etwa sagen: pse_227.020
Ich kam zur Welt und lebte trotzdem weiter.

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Das Zusammenwirken der Stilkräfte ist auch entscheidend pse_227.022
für Einheit oder Zerrissenheit des Stils in einer Dichtung. Freilich pse_227.023
darf hier kein engherziger Standpunkt eingenommen pse_227.024
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einer Dichtung erkennen, daß die Spannweite sehr groß sein pse_227.026
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Menge von Stilarten und Stilformen doch unter eine pse_227.028
Einheit gebracht werden, man denke an Faust II. Oft erscheint pse_227.029
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»Soulier de satin« empfangen alle Stilzüge ihre Einheit erst pse_227.031
unter dem katholischen Weltblick des Werks, als eingebaut in pse_227.032
die Fülle der Welt, in der sich immer wieder Gottes Lenkung pse_227.033
zeigt. Von Stilbruch und Zerreißung des Stils sprechen wir pse_227.034
aber bei starkem Wechsel oder bei Aussetzen der Gemütshaltung, pse_227.035
die nicht aus dem Gesamten zu erklären ist. »... da pse_227.036
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[227/0243] pse_227.001 Sachdarstellung, die an sich eben nicht Sprachkunst ist, im pse_227.002 Rahmen einer Dichtung sprachkünstlerisch bedeutsam sein pse_227.003 kann. Solche Stellen können in die hochgespannte Sprachgestalt pse_227.004 Abwechslung, ein gewisses Ausruhen bringen. Vor pse_227.005 allem aber schaffen sie Kühle. Und gerade das ist ja auch Gestaltung pse_227.006 einer inneren Haltung. Oft wirkt die verstandesklare pse_227.007 Schärfe eines Sprachgebildes stark, besonders in Dramen pse_227.008 kann so die Haltung eines Menschen deutlich zum Ausdruck pse_227.009 kommen. Lessing hebt so oft die Sachdarstellung zu sprachkünstlerischer pse_227.010 Bedeutung. Sachdarstellung kann auch ernüchternd pse_227.011 wirken und damit geradezu komisch sein. Wenn in die pse_227.012 höhere Ebene rhythmischer und metrischer Gestaltung plötzlich pse_227.013 der nüchternste Alltag durch die sprachliche Formung pse_227.014 bricht, dann spüren wir die Fallhöhe, die Entlarvung eines zu pse_227.015 Unrecht bestehenden Anspruchs sogar in der sprachkünstlerischen pse_227.016 Gestaltung, indem eben diese plötzlich durch Sachdarstellung pse_227.017 verdrängt wird. So die komische Entlarvung pse_227.018 möglicher Wichtigtuerei in den Versen Erich Kästners: pse_227.019 Zusammenfassend läßt sich etwa sagen: pse_227.020 Ich kam zur Welt und lebte trotzdem weiter. pse_227.021 Das Zusammenwirken der Stilkräfte ist auch entscheidend pse_227.022 für Einheit oder Zerrissenheit des Stils in einer Dichtung. Freilich pse_227.023 darf hier kein engherziger Standpunkt eingenommen pse_227.024 werden. Wir werden auch bei der Frage der Gesamtgestalt pse_227.025 einer Dichtung erkennen, daß die Spannweite sehr groß sein pse_227.026 kann. In umfangreichen Kunstwerken kann eine sehr gegensätzliche pse_227.027 Menge von Stilarten und Stilformen doch unter eine pse_227.028 Einheit gebracht werden, man denke an Faust II. Oft erscheint pse_227.029 erst im Ergebnis der Zusammenklang: in Claudels pse_227.030 »Soulier de satin« empfangen alle Stilzüge ihre Einheit erst pse_227.031 unter dem katholischen Weltblick des Werks, als eingebaut in pse_227.032 die Fülle der Welt, in der sich immer wieder Gottes Lenkung pse_227.033 zeigt. Von Stilbruch und Zerreißung des Stils sprechen wir pse_227.034 aber bei starkem Wechsel oder bei Aussetzen der Gemütshaltung, pse_227.035 die nicht aus dem Gesamten zu erklären ist. »... da pse_227.036 wischte sich der Senator die Stirn, die aus Gründen einer sehr pse_227.037 zusammengesetzten Erregung feucht geworden war« (Werfel,

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/243>, abgerufen am 30.04.2024.