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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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in stärkster Weise. Das Dinggedicht, wie es in reiner pse_395.002
Form besonders in der Zeitspanne zwischen Meyer und Rilke pse_395.003
heraustritt, ergreift immer deutlicher Kunstgebilde (Michelangelo-Statuen, pse_395.004
Apollo-Torso), die schon an sich durch das pse_395.005
Wesen des Kunstwerks starke Geschlossenheit aufweisen. Um pse_395.006
sie in der Sprache zu ergreifen und neu zu formen, muß pse_395.007
gerade hier besondere Kunststrenge und Formvollendetheit pse_395.008
erstrebt werden. In der sprachlichen Formung werden dann pse_395.009
diese Kunstgebilde vielfach zu Symbolen für irgendeinen Zug pse_395.010
des Menschlichen. Das ist nur möglich, wenn sie in besonderer pse_395.011
Weise umgeformt und verdichtet werden. Gerade pse_395.012
dieses sprachliche Umformen ist aber eine eindeutig geistige pse_395.013
Leistung, ein Ergreifen einer außersprachlichen Wirklichkeit pse_395.014
und ihre Verdichtung. Solche Leistung ist nur aus tiefstem pse_395.015
Versenken, aus Erleben möglich. Und in der sprachlichen pse_395.016
Durchführung und der Formzucht wird diese Innerlichkeit, pse_395.017
die sich dem Gebilde stellt, selbst Gestalt. Es ist aber auch eine pse_395.018
andere Richtung möglich: daß nämlich das Gebilde als etwas pse_395.019
dem Menschen Fremdes erlebt wird; hier entfaltet sich der pse_395.020
Eindruck der Entfremdung, der Fremdheit, dessen, was den pse_395.021
Menschen von außen her bedroht. Aber auch diese entfremdende pse_395.022
sprachliche Neuformung geht nicht aus Gleichgültigkeit pse_395.023
hervor, man spürt in solcher Gestaltung den inneren pse_395.024
Schauer, mit der sie geleistet wird. Dringt solche Fremdheit in pse_395.025
hohe Bereiche, so wird etwas wie Schicksalsmacht lebendig. pse_395.026
Eine letzte Möglichkeit des Dinggedichts liegt dann darin, pse_395.027
daß es durch die erfaßten Dinge hindurch zum Sein selbst vordringen pse_395.028
will, wie das gerade bei Rilke zu beobachten ist.

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Im Dinggedicht als der reinsten Form jenes lyrischen Kunstwerks, pse_395.030
das in voller Formenstrenge selbst nur Gebilde sein pse_395.031
will, tritt gewiß das lyrische Ich zurück. Man wird hier den pse_395.032
Ausdruck Erlebnisgedicht kaum gebrauchen können. Trotzdem pse_395.033
aber ist das lyrische Ich, der Mensch, der dieses Gedicht pse_395.034
spricht, nicht ausgeschaltet. Denn daß das Ding in bestimmter pse_395.035
Weise gesehen wird, daß es in der Sprache neu gestaltet wird, pse_395.036
daß es gedeutet wird und so zum Symbol werden kann, das pse_395.037
alles beweist, daß das Ding in bestimmter Weise erfaßt wird, pse_395.038
daß jemand um sein Wesen ringt. Da bricht das Menschliche

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in stärkster Weise. Das Dinggedicht, wie es in reiner pse_395.002
Form besonders in der Zeitspanne zwischen Meyer und Rilke pse_395.003
heraustritt, ergreift immer deutlicher Kunstgebilde (Michelangelo-Statuen, pse_395.004
Apollo-Torso), die schon an sich durch das pse_395.005
Wesen des Kunstwerks starke Geschlossenheit aufweisen. Um pse_395.006
sie in der Sprache zu ergreifen und neu zu formen, muß pse_395.007
gerade hier besondere Kunststrenge und Formvollendetheit pse_395.008
erstrebt werden. In der sprachlichen Formung werden dann pse_395.009
diese Kunstgebilde vielfach zu Symbolen für irgendeinen Zug pse_395.010
des Menschlichen. Das ist nur möglich, wenn sie in besonderer pse_395.011
Weise umgeformt und verdichtet werden. Gerade pse_395.012
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Leistung, ein Ergreifen einer außersprachlichen Wirklichkeit pse_395.014
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die sich dem Gebilde stellt, selbst Gestalt. Es ist aber auch eine pse_395.018
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dem Menschen Fremdes erlebt wird; hier entfaltet sich der pse_395.020
Eindruck der Entfremdung, der Fremdheit, dessen, was den pse_395.021
Menschen von außen her bedroht. Aber auch diese entfremdende pse_395.022
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hervor, man spürt in solcher Gestaltung den inneren pse_395.024
Schauer, mit der sie geleistet wird. Dringt solche Fremdheit in pse_395.025
hohe Bereiche, so wird etwas wie Schicksalsmacht lebendig. pse_395.026
Eine letzte Möglichkeit des Dinggedichts liegt dann darin, pse_395.027
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will, wie das gerade bei Rilke zu beobachten ist.

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Im Dinggedicht als der reinsten Form jenes lyrischen Kunstwerks, pse_395.030
das in voller Formenstrenge selbst nur Gebilde sein pse_395.031
will, tritt gewiß das lyrische Ich zurück. Man wird hier den pse_395.032
Ausdruck Erlebnisgedicht kaum gebrauchen können. Trotzdem pse_395.033
aber ist das lyrische Ich, der Mensch, der dieses Gedicht pse_395.034
spricht, nicht ausgeschaltet. Denn daß das Ding in bestimmter pse_395.035
Weise gesehen wird, daß es in der Sprache neu gestaltet wird, pse_395.036
daß es gedeutet wird und so zum Symbol werden kann, das pse_395.037
alles beweist, daß das Ding in bestimmter Weise erfaßt wird, pse_395.038
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/411>, abgerufen am 22.05.2024.