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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Charakter, sondern auch im dichterischen reine pse_420.002
Gesänge in der eben gekennzeichneten Art sind. Dazu gehört pse_420.003
auch das Kirchenlied. Auch da singt eine Gemeinde, und sie pse_420.004
fühlt sich durch die religiöse Sphäre emporgehoben. Wie pse_420.005
mannigfaltig die Stimmungen innerhalb der Form des Gesanges pse_420.006
auch im Kirchenlied sein können, zeigen die ersten pse_420.007
Strophen zweier berühmter Beispiele:

pse_420.008

Ein feste Burg ist unser Gott, pse_420.009
Ein gute Wehr und Waffen. pse_420.010
Er hilft uns frei aus aller Not, pse_420.011
Die uns itzt hat betroffen. pse_420.012
Der alt böse Feind, pse_420.013
Mit Ernst ers itzt meint. pse_420.014
Groß Macht und viel List pse_420.015
Sein grausam Rüstung ist. pse_420.016
Auf Erd ist nicht seins gleichen.
(Luther)
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O Haupt voll Blut und Wunden, pse_420.018
Voll Schmerz und voller Hohn! pse_420.019
O Haupt, zu Spott gebunden pse_420.020
Mit einer Dornenkron! pse_420.021
O Haupt, sonst schön gezieret pse_420.022
Mit höchster Ehr und Zier, pse_420.023
Itzt aber hoch schimpfieret: pse_420.024
Gegrüßet seist du mir!
(Paul Gerhardt)

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Die Strophenformen der Gesänge sind vor allem die Terzinen pse_420.026
und die Stanzen. Gerade diese geben Feierlichkeit, Gehobenheit. pse_420.027
Auch die sprachlichen Bilder gehören höheren pse_420.028
Bereichen an. Aber man kann vielleicht eine mehr ruhig gehobene pse_420.029
und eine mitreißende Art unterscheiden. Auch dafür pse_420.030
bieten sich zwei berühmte Beispiele an, aus denen die Eigenart pse_420.031
des Gesanges, seine Fülle, seine innere Höhe und der Reichtum pse_420.032
seiner künstlerischen Gestaltung deutlich werden:

pse_420.033

Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte pse_420.034
Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing, pse_420.035
Daß ich erwacht, aus meiner stillen Hütte pse_420.036
Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; pse_420.037
Ich freute mich bei einem jeden Schritte pse_420.038
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing: pse_420.039
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, pse_420.040
Und alles war erquickt, mich zu erquicken.
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   (Goethe, Zueignung)

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Sein grausam Rüstung ist. pse_420.016
Auf Erd ist nicht seins gleichen.
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O Haupt voll Blut und Wunden, pse_420.018
Voll Schmerz und voller Hohn! pse_420.019
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Mit einer Dornenkron! pse_420.021
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Gegrüßet seist du mir!
(Paul Gerhardt)

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Die Strophenformen der Gesänge sind vor allem die Terzinen pse_420.026
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Auch die sprachlichen Bilder gehören höheren pse_420.028
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und eine mitreißende Art unterscheiden. Auch dafür pse_420.030
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des Gesanges, seine Fülle, seine innere Höhe und der Reichtum pse_420.032
seiner künstlerischen Gestaltung deutlich werden:

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Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte pse_420.034
Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing, pse_420.035
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Ich freute mich bei einem jeden Schritte pse_420.038
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing: pse_420.039
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, pse_420.040
Und alles war erquickt, mich zu erquicken.
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   (Goethe, Zueignung)

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[420/0436] pse_420.001 Charakter, sondern auch im dichterischen reine pse_420.002 Gesänge in der eben gekennzeichneten Art sind. Dazu gehört pse_420.003 auch das Kirchenlied. Auch da singt eine Gemeinde, und sie pse_420.004 fühlt sich durch die religiöse Sphäre emporgehoben. Wie pse_420.005 mannigfaltig die Stimmungen innerhalb der Form des Gesanges pse_420.006 auch im Kirchenlied sein können, zeigen die ersten pse_420.007 Strophen zweier berühmter Beispiele: pse_420.008 Ein feste Burg ist unser Gott, pse_420.009 Ein gute Wehr und Waffen. pse_420.010 Er hilft uns frei aus aller Not, pse_420.011 Die uns itzt hat betroffen. pse_420.012 Der alt böse Feind, pse_420.013 Mit Ernst ers itzt meint. pse_420.014 Groß Macht und viel List pse_420.015 Sein grausam Rüstung ist. pse_420.016 Auf Erd ist nicht seins gleichen. (Luther) pse_420.017 O Haupt voll Blut und Wunden, pse_420.018 Voll Schmerz und voller Hohn! pse_420.019 O Haupt, zu Spott gebunden pse_420.020 Mit einer Dornenkron! pse_420.021 O Haupt, sonst schön gezieret pse_420.022 Mit höchster Ehr und Zier, pse_420.023 Itzt aber hoch schimpfieret: pse_420.024 Gegrüßet seist du mir! (Paul Gerhardt) pse_420.025 Die Strophenformen der Gesänge sind vor allem die Terzinen pse_420.026 und die Stanzen. Gerade diese geben Feierlichkeit, Gehobenheit. pse_420.027 Auch die sprachlichen Bilder gehören höheren pse_420.028 Bereichen an. Aber man kann vielleicht eine mehr ruhig gehobene pse_420.029 und eine mitreißende Art unterscheiden. Auch dafür pse_420.030 bieten sich zwei berühmte Beispiele an, aus denen die Eigenart pse_420.031 des Gesanges, seine Fülle, seine innere Höhe und der Reichtum pse_420.032 seiner künstlerischen Gestaltung deutlich werden: pse_420.033 Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte pse_420.034 Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing, pse_420.035 Daß ich erwacht, aus meiner stillen Hütte pse_420.036 Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; pse_420.037 Ich freute mich bei einem jeden Schritte pse_420.038 Der neuen Blume, die voll Tropfen hing: pse_420.039 Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, pse_420.040 Und alles war erquickt, mich zu erquicken. pse_420.041 (Goethe, Zueignung)

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/436>, abgerufen am 21.05.2024.