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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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nämlich, dass der Frauenkauf sich keineswegs nur oder vorzugsweise
auf den niedrigsten Stufen der Kulturentwicklung findet. Einer der
besten Kenner dieses Gebietes stellt fest, dass die unzivilisierten
Völker, die die Kaufehe nicht kennen, meistens ausserordentlich rohe
Rassen sind. So erniedrigend der Kauf der Frau in höheren Verhält-
nissen erscheint, so erhöhend kann er in niedrigen wirken, und zwar
aus zwei Ursachen. Zunächst findet der Frauenkauf niemals, soviel
wir wissen, nach Art der individualistischen Wirtschaft statt. Strenge
Formen und Formeln, Berücksichtigung der Familieninteressen, genaue
Konventionen über Art und Höhe der Zahlung binden ihn selbst bei
recht tiefstehenden Völkern. Die ganze Art seines Vollzuges trägt
ausgesprochen sozialen Charakter: ich erwähne nur, dass der Bräutigam
vielfach berechtigt ist, von jedem Stammesgenossen einen Beitrag zum
Brautpreise zu fordern, und dass dieser selbst oft in dem Geschlechte
der Braut verteilt wird. Diese ganze geschäftsmässige und unindividuelle
Behandlung der Eheangelegenheit erscheint uns freilich herabsetzend.
Dennoch ist die Organisation derselben, wie sie im Frauenkauf
vorliegt, ein ungeheurer Fortschritt gegenüber etwa den roheren Zu-
ständen der Raubehe oder den ganz primären Sexualverhältnissen, die
zwar wahrscheinlich nicht in völliger Promiskuität, aber ebenso wahr-
scheinlich auch ohne jenen festen normierenden Halt verliefen, den
der sozial geregelte Kauf darbietet. Die Entwicklung der Menschheit
gelangt immer wieder zu Stadien, wo die Unterdrückung der Indivi-
dualität der unausbleibliche Durchgangspunkt für ihre spätere freie
Entfaltung, wo die blosse Äusserlichkeit der Lebensbestimmungen die
Schule der Innerlichkeit wird, wo die vergewaltigende Formung eine
Aufsammlung der Kräfte bewirkt, die später alle persönliche Eigenart
tragen. Von dem Ideal der vollentwickelten Individualität aus er-
scheinen solche Perioden allerdings roh und würdelos, aber sie legen
nicht nur die positiven Keime der späteren Höherentwicklung, sondern
sie sind auch an und für sich schon Erweisungen des Geistes in seiner
organisierenden Herrschaft über den Rohstoff fluktuierender Impulse,
Bethätigungen der spezifisch menschlichen Zweckmässigkeit, die sich
die Normen des Lebens -- wie brutal, äusserlich, ja stupid auch
immer -- eben doch selbst giebt, statt sie von blossen Naturgewalten
zu empfangen. Es giebt heute extreme Individualisten, welche dennoch
praktische Anhänger des Sozialismus sind, weil sie diesen als die un-
entbehrliche Vorbereitung und, wenn auch noch so harte, Schule für
einen geläuterten und gerechten Individualismus ansehen. So ist jene
relativ feste Ordnung und äusserliche Schematik der Kaufehe ein erster,
sehr gewaltsamer, sehr unindividueller Versuch gewesen, die Ehe-

nämlich, daſs der Frauenkauf sich keineswegs nur oder vorzugsweise
auf den niedrigsten Stufen der Kulturentwicklung findet. Einer der
besten Kenner dieses Gebietes stellt fest, daſs die unzivilisierten
Völker, die die Kaufehe nicht kennen, meistens auſserordentlich rohe
Rassen sind. So erniedrigend der Kauf der Frau in höheren Verhält-
nissen erscheint, so erhöhend kann er in niedrigen wirken, und zwar
aus zwei Ursachen. Zunächst findet der Frauenkauf niemals, soviel
wir wissen, nach Art der individualistischen Wirtschaft statt. Strenge
Formen und Formeln, Berücksichtigung der Familieninteressen, genaue
Konventionen über Art und Höhe der Zahlung binden ihn selbst bei
recht tiefstehenden Völkern. Die ganze Art seines Vollzuges trägt
ausgesprochen sozialen Charakter: ich erwähne nur, daſs der Bräutigam
vielfach berechtigt ist, von jedem Stammesgenossen einen Beitrag zum
Brautpreise zu fordern, und daſs dieser selbst oft in dem Geschlechte
der Braut verteilt wird. Diese ganze geschäftsmäſsige und unindividuelle
Behandlung der Eheangelegenheit erscheint uns freilich herabsetzend.
Dennoch ist die Organisation derselben, wie sie im Frauenkauf
vorliegt, ein ungeheurer Fortschritt gegenüber etwa den roheren Zu-
ständen der Raubehe oder den ganz primären Sexualverhältnissen, die
zwar wahrscheinlich nicht in völliger Promiskuität, aber ebenso wahr-
scheinlich auch ohne jenen festen normierenden Halt verliefen, den
der sozial geregelte Kauf darbietet. Die Entwicklung der Menschheit
gelangt immer wieder zu Stadien, wo die Unterdrückung der Indivi-
dualität der unausbleibliche Durchgangspunkt für ihre spätere freie
Entfaltung, wo die bloſse Äuſserlichkeit der Lebensbestimmungen die
Schule der Innerlichkeit wird, wo die vergewaltigende Formung eine
Aufsammlung der Kräfte bewirkt, die später alle persönliche Eigenart
tragen. Von dem Ideal der vollentwickelten Individualität aus er-
scheinen solche Perioden allerdings roh und würdelos, aber sie legen
nicht nur die positiven Keime der späteren Höherentwicklung, sondern
sie sind auch an und für sich schon Erweisungen des Geistes in seiner
organisierenden Herrschaft über den Rohstoff fluktuierender Impulse,
Bethätigungen der spezifisch menschlichen Zweckmäſsigkeit, die sich
die Normen des Lebens — wie brutal, äuſserlich, ja stupid auch
immer — eben doch selbst giebt, statt sie von bloſsen Naturgewalten
zu empfangen. Es giebt heute extreme Individualisten, welche dennoch
praktische Anhänger des Sozialismus sind, weil sie diesen als die un-
entbehrliche Vorbereitung und, wenn auch noch so harte, Schule für
einen geläuterten und gerechten Individualismus ansehen. So ist jene
relativ feste Ordnung und äuſserliche Schematik der Kaufehe ein erster,
sehr gewaltsamer, sehr unindividueller Versuch gewesen, die Ehe-

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[384/0408] nämlich, daſs der Frauenkauf sich keineswegs nur oder vorzugsweise auf den niedrigsten Stufen der Kulturentwicklung findet. Einer der besten Kenner dieses Gebietes stellt fest, daſs die unzivilisierten Völker, die die Kaufehe nicht kennen, meistens auſserordentlich rohe Rassen sind. So erniedrigend der Kauf der Frau in höheren Verhält- nissen erscheint, so erhöhend kann er in niedrigen wirken, und zwar aus zwei Ursachen. Zunächst findet der Frauenkauf niemals, soviel wir wissen, nach Art der individualistischen Wirtschaft statt. Strenge Formen und Formeln, Berücksichtigung der Familieninteressen, genaue Konventionen über Art und Höhe der Zahlung binden ihn selbst bei recht tiefstehenden Völkern. Die ganze Art seines Vollzuges trägt ausgesprochen sozialen Charakter: ich erwähne nur, daſs der Bräutigam vielfach berechtigt ist, von jedem Stammesgenossen einen Beitrag zum Brautpreise zu fordern, und daſs dieser selbst oft in dem Geschlechte der Braut verteilt wird. Diese ganze geschäftsmäſsige und unindividuelle Behandlung der Eheangelegenheit erscheint uns freilich herabsetzend. Dennoch ist die Organisation derselben, wie sie im Frauenkauf vorliegt, ein ungeheurer Fortschritt gegenüber etwa den roheren Zu- ständen der Raubehe oder den ganz primären Sexualverhältnissen, die zwar wahrscheinlich nicht in völliger Promiskuität, aber ebenso wahr- scheinlich auch ohne jenen festen normierenden Halt verliefen, den der sozial geregelte Kauf darbietet. Die Entwicklung der Menschheit gelangt immer wieder zu Stadien, wo die Unterdrückung der Indivi- dualität der unausbleibliche Durchgangspunkt für ihre spätere freie Entfaltung, wo die bloſse Äuſserlichkeit der Lebensbestimmungen die Schule der Innerlichkeit wird, wo die vergewaltigende Formung eine Aufsammlung der Kräfte bewirkt, die später alle persönliche Eigenart tragen. Von dem Ideal der vollentwickelten Individualität aus er- scheinen solche Perioden allerdings roh und würdelos, aber sie legen nicht nur die positiven Keime der späteren Höherentwicklung, sondern sie sind auch an und für sich schon Erweisungen des Geistes in seiner organisierenden Herrschaft über den Rohstoff fluktuierender Impulse, Bethätigungen der spezifisch menschlichen Zweckmäſsigkeit, die sich die Normen des Lebens — wie brutal, äuſserlich, ja stupid auch immer — eben doch selbst giebt, statt sie von bloſsen Naturgewalten zu empfangen. Es giebt heute extreme Individualisten, welche dennoch praktische Anhänger des Sozialismus sind, weil sie diesen als die un- entbehrliche Vorbereitung und, wenn auch noch so harte, Schule für einen geläuterten und gerechten Individualismus ansehen. So ist jene relativ feste Ordnung und äuſserliche Schematik der Kaufehe ein erster, sehr gewaltsamer, sehr unindividueller Versuch gewesen, die Ehe-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/408>, abgerufen am 30.04.2024.