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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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ARTIC. III. XLIII.
nerley/ und ändert sich dieselbe weder durch zeit noch ort/ ohne daß zu dersel-
ben deutlicher vorstellung und erklährung eine zeit vor der andern mehr ge-
legenheit giebet. Also auch die regulae practicae von unsern pflichten ins-
gemein und in thesi sind allezeit einerley: und weil sie sowol als die glau-
bens-lehren aus der göttlichen offenbahrung in der schrifft allein zu erken-
nen sind/ stehen sie niemal unter unserm gutachten/ noch lassen sich jemal
von uns selbsten nach befinden beugen. Wo es aber in hypothesi darauff
ankommet/ wie zu dieser zeit oder an jenem ort das werck des HERRN am
nützlichsten zutreiben/ wie die lehre zuführen/ und die pflichten am besten
zu werck zurichten seyen/ da bedarffs Christliches nachsinnens/ prüffens und
gebets/ daß man göttlichen willen erkenne/ und demselben allemal in ihm
gefälliger klugheit folge. Da bekenne nun/ daß immer in den gedancken ge-
standen/ auch in denselben stets mehr durch erfahrung bekräfftigt werde/ daß
die generosiora consilia und hitzige beginnen/ wo man in meinung grade
durch zugehen/ und eins zu wagen/ vielmehr durch die hindernüssen mit ge-
walt durch reisen will/ als sie mit guter manier und allgemach abzuweisen
sich unterstehet/ mir nicht gefallen/ noch ich mich denselbigen conformiren
können; wie wol ich dardurch bey vielen/ auch guten seelen offt keinen danck
verdienet/ sondern dieselbe es meinen naturel, alter und furchtsamkeit zu-
geschrieben.

Ob ich nun wol/ daß niemal darinnen gefehlet haben solte/ zu behaupten
nicht getraue/ gereuet mich doch insgemein diese meine bißherige art nicht/
vielmehr dancke meinem GOtt/ der mich also geführet; hingegen habe offt
mit betrübnüß erfahren/ wie manches gutes/ das sich noch stifften oder er-
halten hätte lassen/ durch allzueyffrige außbrüche auch gutmeinender leute
gantz verdorben/ auch seits mir manches/ damit sonsten durch zukommen
vermocht/ gehindert worden. Also ist der jenige medicus eben nicht der
beste/ der grad zufähret/ und einen an einer alten eingewurtzelten kranckheit
ligenden patienten mit denen in dem übrigen appropriatesten und kräfftig-
sten specificis angreifft/ ja es kan geschehen/ daß er ihn eben damit tödtet.
Klüglicher aber handelt der jenige/ der den ursprung der kranckheit/ wodurch
sie unterhalten und vermehret werde/ was dero gefährlichste symptomata
seyen/ und dergleichen/ bedächtlich untersucht/ und als denn allen seinen
fleiß dnhin anwendet/ den symptomatibus nur erst zu wehren, daß sie nicht
überhand nehmen und den todt bringen/ nechst dem die ursachen allgemach
abzuwenden und den leib zu bereiten. Da meinet zwar der patient, und
etwa auch andere/ der medicus gehe zu schläffrig/ er solte die kranckheit stär-
cker angreiffen: aber wer den methodum verstehet/ wird seine klugheit lo-
ben und er selbs wartet seiner zeit/ der kranckheit nach gnugsamer vorberei-

tung
Ggg ggg

ARTIC. III. XLIII.
nerley/ und aͤndert ſich dieſelbe weder durch zeit noch ort/ ohne daß zu derſel-
ben deutlicher vorſtellung und erklaͤhrung eine zeit vor der andern mehr ge-
legenheit giebet. Alſo auch die regulæ practicæ von unſern pflichten ins-
gemein und in theſi ſind allezeit einerley: und weil ſie ſowol als die glau-
bens-lehren aus der goͤttlichen offenbahrung in der ſchrifft allein zu erken-
nen ſind/ ſtehen ſie niemal unter unſerm gutachten/ noch laſſen ſich jemal
von uns ſelbſten nach befinden beugen. Wo es aber in hypotheſi darauff
ankommet/ wie zu dieſer zeit oder an jenem ort das werck des HERRN am
nuͤtzlichſten zutreiben/ wie die lehre zufuͤhren/ und die pflichten am beſten
zu werck zurichten ſeyen/ da bedarffs Chriſtliches nachſinnens/ pruͤffens und
gebets/ daß man goͤttlichen willen erkenne/ und demſelben allemal in ihm
gefaͤlliger klugheit folge. Da bekenne nun/ daß immer in den gedancken ge-
ſtanden/ auch in denſelben ſtets mehr durch erfahrung bekraͤfftigt werde/ daß
die generoſiora conſilia und hitzige beginnen/ wo man in meinung grade
durch zugehen/ und eins zu wagen/ vielmehr durch die hindernuͤſſen mit ge-
walt durch reiſen will/ als ſie mit guter manier und allgemach abzuweiſen
ſich unterſtehet/ mir nicht gefallen/ noch ich mich denſelbigen conformiren
koͤnnen; wie wol ich dardurch bey vielen/ auch guten ſeelen offt keinen danck
verdienet/ ſondern dieſelbe es meinen naturel, alter und furchtſamkeit zu-
geſchrieben.

Ob ich nun wol/ daß niemal darinnen gefehlet haben ſolte/ zu behaupten
nicht getraue/ gereuet mich doch insgemein dieſe meine bißherige art nicht/
vielmehr dancke meinem GOtt/ der mich alſo gefuͤhret; hingegen habe offt
mit betruͤbnuͤß erfahren/ wie manches gutes/ das ſich noch ſtifften oder er-
halten haͤtte laſſen/ durch allzueyffrige außbruͤche auch gutmeinender leute
gantz verdorben/ auch ſeits mir manches/ damit ſonſten durch zukommen
vermocht/ gehindert worden. Alſo iſt der jenige medicus eben nicht der
beſte/ der grad zufaͤhret/ und einen an einer alten eingewurtzelten kranckheit
ligenden patienten mit denen in dem uͤbrigen appropriateſten und kraͤfftig-
ſten ſpecificis angreifft/ ja es kan geſchehen/ daß er ihn eben damit toͤdtet.
Kluͤglicher aber handelt der jenige/ der den urſprung der kranckheit/ wodurch
ſie unterhalten und vermehret werde/ was dero gefaͤhrlichſte ſymptomata
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fleiß dnhin anwendet/ den ſymptomatibus nur erſt zu wehren, daß ſie nicht
uͤberhand nehmen und den todt bringen/ nechſt dem die urſachen allgemach
abzuwenden und den leib zu bereiten. Da meinet zwar der patient, und
etwa auch andere/ der medicus gehe zu ſchlaͤffrig/ er ſolte die kranckheit ſtaͤr-
cker angreiffen: aber wer den methodum verſtehet/ wird ſeine klugheit lo-
ben und er ſelbs wartet ſeiner zeit/ der kranckheit nach gnugſamer vorberei-

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[969/0987] ARTIC. III. XLIII. nerley/ und aͤndert ſich dieſelbe weder durch zeit noch ort/ ohne daß zu derſel- ben deutlicher vorſtellung und erklaͤhrung eine zeit vor der andern mehr ge- legenheit giebet. Alſo auch die regulæ practicæ von unſern pflichten ins- gemein und in theſi ſind allezeit einerley: und weil ſie ſowol als die glau- bens-lehren aus der goͤttlichen offenbahrung in der ſchrifft allein zu erken- nen ſind/ ſtehen ſie niemal unter unſerm gutachten/ noch laſſen ſich jemal von uns ſelbſten nach befinden beugen. Wo es aber in hypotheſi darauff ankommet/ wie zu dieſer zeit oder an jenem ort das werck des HERRN am nuͤtzlichſten zutreiben/ wie die lehre zufuͤhren/ und die pflichten am beſten zu werck zurichten ſeyen/ da bedarffs Chriſtliches nachſinnens/ pruͤffens und gebets/ daß man goͤttlichen willen erkenne/ und demſelben allemal in ihm gefaͤlliger klugheit folge. Da bekenne nun/ daß immer in den gedancken ge- ſtanden/ auch in denſelben ſtets mehr durch erfahrung bekraͤfftigt werde/ daß die generoſiora conſilia und hitzige beginnen/ wo man in meinung grade durch zugehen/ und eins zu wagen/ vielmehr durch die hindernuͤſſen mit ge- walt durch reiſen will/ als ſie mit guter manier und allgemach abzuweiſen ſich unterſtehet/ mir nicht gefallen/ noch ich mich denſelbigen conformiren koͤnnen; wie wol ich dardurch bey vielen/ auch guten ſeelen offt keinen danck verdienet/ ſondern dieſelbe es meinen naturel, alter und furchtſamkeit zu- geſchrieben. Ob ich nun wol/ daß niemal darinnen gefehlet haben ſolte/ zu behaupten nicht getraue/ gereuet mich doch insgemein dieſe meine bißherige art nicht/ vielmehr dancke meinem GOtt/ der mich alſo gefuͤhret; hingegen habe offt mit betruͤbnuͤß erfahren/ wie manches gutes/ das ſich noch ſtifften oder er- halten haͤtte laſſen/ durch allzueyffrige außbruͤche auch gutmeinender leute gantz verdorben/ auch ſeits mir manches/ damit ſonſten durch zukommen vermocht/ gehindert worden. Alſo iſt der jenige medicus eben nicht der beſte/ der grad zufaͤhret/ und einen an einer alten eingewurtzelten kranckheit ligenden patienten mit denen in dem uͤbrigen appropriateſten und kraͤfftig- ſten ſpecificis angreifft/ ja es kan geſchehen/ daß er ihn eben damit toͤdtet. Kluͤglicher aber handelt der jenige/ der den urſprung der kranckheit/ wodurch ſie unterhalten und vermehret werde/ was dero gefaͤhrlichſte ſymptomata ſeyen/ und dergleichen/ bedaͤchtlich unterſucht/ und als denn allen ſeinen fleiß dnhin anwendet/ den ſymptomatibus nur erſt zu wehren, daß ſie nicht uͤberhand nehmen und den todt bringen/ nechſt dem die urſachen allgemach abzuwenden und den leib zu bereiten. Da meinet zwar der patient, und etwa auch andere/ der medicus gehe zu ſchlaͤffrig/ er ſolte die kranckheit ſtaͤr- cker angreiffen: aber wer den methodum verſtehet/ wird ſeine klugheit lo- ben und er ſelbs wartet ſeiner zeit/ der kranckheit nach gnugſamer vorberei- tung Ggg ggg

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 969. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/987>, abgerufen am 28.04.2024.