Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

den Tagen des kummervollen und gedankenschweren
Alters. Darum gebet auf das stolze Vertrauen auf
die Vernunft, und haltet fest an dem Glauben! Gebet
auf die thörichte Zuversicht auf euren gesunden Men¬
schenverstand, wie ihr ihn nennt! O, meine andäch¬
tigen Zuhörer, dieser gesunde Menschenverstand ist ein
kranker, ein sehr kranker Menschenverstand, ist ein
Teufelsspuk und ein Irrlicht, das Euch unaufhaltsam
in den Sündenpfuhl der Verderbniß lockt!"

Oswald wurde durch diese Rede, die sich, mit Ci¬
taten aus der heiligen Schrift reichlich untermischt,
noch über eine halbe Stunde fortspann, auf eine eigen¬
thümliche, aber keineswegs angenehme Weise berührt.
Der Gegensatz zwischen der stillen, demüthigen Unter¬
werfung unter die großen, ewigen Gesetze der Natur,
die aus den Worten der alten Frau und noch mehr
aus ihrem ernsten, bescheidenen Wesen gesprochen hatte,
und der anmaßlichen Zuversicht, mit welcher der Mann
auf der Kanzel über so tief verborgene Dinge sprach,
und jedes gesunde Gefühl und jede natürliche Regung
der Menschenbrust als eitel Lug und Trug und Sünde
verdammte, war doch gar zu groß. Die schmucklose
Weisheit der Matrone war frisch und duftig, wie ein
Blümchen auf der Haide, die prunkende Klugheit des
Predigers wie eine Pflanze, in der dumpfigen, schwülen

den Tagen des kummervollen und gedankenſchweren
Alters. Darum gebet auf das ſtolze Vertrauen auf
die Vernunft, und haltet feſt an dem Glauben! Gebet
auf die thörichte Zuverſicht auf euren geſunden Men¬
ſchenverſtand, wie ihr ihn nennt! O, meine andäch¬
tigen Zuhörer, dieſer geſunde Menſchenverſtand iſt ein
kranker, ein ſehr kranker Menſchenverſtand, iſt ein
Teufelsſpuk und ein Irrlicht, das Euch unaufhaltſam
in den Sündenpfuhl der Verderbniß lockt!“

Oswald wurde durch dieſe Rede, die ſich, mit Ci¬
taten aus der heiligen Schrift reichlich untermiſcht,
noch über eine halbe Stunde fortſpann, auf eine eigen¬
thümliche, aber keineswegs angenehme Weiſe berührt.
Der Gegenſatz zwiſchen der ſtillen, demüthigen Unter¬
werfung unter die großen, ewigen Geſetze der Natur,
die aus den Worten der alten Frau und noch mehr
aus ihrem ernſten, beſcheidenen Weſen geſprochen hatte,
und der anmaßlichen Zuverſicht, mit welcher der Mann
auf der Kanzel über ſo tief verborgene Dinge ſprach,
und jedes geſunde Gefühl und jede natürliche Regung
der Menſchenbruſt als eitel Lug und Trug und Sünde
verdammte, war doch gar zu groß. Die ſchmuckloſe
Weisheit der Matrone war friſch und duftig, wie ein
Blümchen auf der Haide, die prunkende Klugheit des
Predigers wie eine Pflanze, in der dumpfigen, ſchwülen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0108" n="98"/>
den Tagen des kummervollen und gedanken&#x017F;chweren<lb/>
Alters. Darum gebet auf das &#x017F;tolze Vertrauen auf<lb/>
die Vernunft, und haltet fe&#x017F;t an dem Glauben! Gebet<lb/>
auf die thörichte Zuver&#x017F;icht auf euren ge&#x017F;unden Men¬<lb/>
&#x017F;chenver&#x017F;tand, wie ihr ihn nennt! O, meine andäch¬<lb/>
tigen Zuhörer, die&#x017F;er ge&#x017F;unde Men&#x017F;chenver&#x017F;tand i&#x017F;t ein<lb/>
kranker, ein &#x017F;ehr kranker Men&#x017F;chenver&#x017F;tand, i&#x017F;t ein<lb/>
Teufels&#x017F;puk und ein Irrlicht, das Euch unaufhalt&#x017F;am<lb/>
in den Sündenpfuhl der Verderbniß lockt!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Oswald wurde durch die&#x017F;e Rede, die &#x017F;ich, mit Ci¬<lb/>
taten aus der heiligen Schrift reichlich untermi&#x017F;cht,<lb/>
noch über eine halbe Stunde fort&#x017F;pann, auf eine eigen¬<lb/>
thümliche, aber keineswegs angenehme Wei&#x017F;e berührt.<lb/>
Der Gegen&#x017F;atz zwi&#x017F;chen der &#x017F;tillen, demüthigen Unter¬<lb/>
werfung unter die großen, ewigen Ge&#x017F;etze der Natur,<lb/>
die aus den Worten der alten Frau und noch mehr<lb/>
aus ihrem ern&#x017F;ten, be&#x017F;cheidenen We&#x017F;en ge&#x017F;prochen hatte,<lb/>
und der anmaßlichen Zuver&#x017F;icht, mit welcher der Mann<lb/>
auf der Kanzel über &#x017F;o tief verborgene Dinge &#x017F;prach,<lb/>
und jedes ge&#x017F;unde Gefühl und jede natürliche Regung<lb/>
der Men&#x017F;chenbru&#x017F;t als eitel Lug und Trug und Sünde<lb/>
verdammte, war doch gar zu groß. Die &#x017F;chmucklo&#x017F;e<lb/>
Weisheit der Matrone war fri&#x017F;ch und duftig, wie ein<lb/>
Blümchen auf der Haide, die prunkende Klugheit des<lb/>
Predigers wie eine Pflanze, in der dumpfigen, &#x017F;chwülen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0108] den Tagen des kummervollen und gedankenſchweren Alters. Darum gebet auf das ſtolze Vertrauen auf die Vernunft, und haltet feſt an dem Glauben! Gebet auf die thörichte Zuverſicht auf euren geſunden Men¬ ſchenverſtand, wie ihr ihn nennt! O, meine andäch¬ tigen Zuhörer, dieſer geſunde Menſchenverſtand iſt ein kranker, ein ſehr kranker Menſchenverſtand, iſt ein Teufelsſpuk und ein Irrlicht, das Euch unaufhaltſam in den Sündenpfuhl der Verderbniß lockt!“ Oswald wurde durch dieſe Rede, die ſich, mit Ci¬ taten aus der heiligen Schrift reichlich untermiſcht, noch über eine halbe Stunde fortſpann, auf eine eigen¬ thümliche, aber keineswegs angenehme Weiſe berührt. Der Gegenſatz zwiſchen der ſtillen, demüthigen Unter¬ werfung unter die großen, ewigen Geſetze der Natur, die aus den Worten der alten Frau und noch mehr aus ihrem ernſten, beſcheidenen Weſen geſprochen hatte, und der anmaßlichen Zuverſicht, mit welcher der Mann auf der Kanzel über ſo tief verborgene Dinge ſprach, und jedes geſunde Gefühl und jede natürliche Regung der Menſchenbruſt als eitel Lug und Trug und Sünde verdammte, war doch gar zu groß. Die ſchmuckloſe Weisheit der Matrone war friſch und duftig, wie ein Blümchen auf der Haide, die prunkende Klugheit des Predigers wie eine Pflanze, in der dumpfigen, ſchwülen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/108
Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/108>, abgerufen am 27.04.2024.