Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

mantik, ein kleiner stehen gebliebener Rest von den
großen, großen Wäldern, die in Musäus' Märchen
rauschen; von dem Walde etwa, drin der Graf wohnte,
der seine Töchter verkaufte, wenn er die Wechsel am
Verfalltage nicht einlösen konnte, -- eine Manier, seine
Schulden zu bezahlen, die selbst noch heutzutage im
Schwang sein soll. Und wer nun in diesem Walde
einschläft, wozu ich große Lust verspüre, schläft so ein
paar hundert Jährchen, ehe er's sich versieht, und wenn
er aufwacht, wallt ihm ein schneeweißer Bart bis zum
Gürtel. Darob geräth er denn in gerechtes Erstaunen,
und er fragt den ersten Bauer, der ihm begegnet, ob
er ihm nicht den Weg nach Berkow zeigen könne?
"Berkow?" antwortet der Angeredete höflich. "Habe
nie von einem solchen Ort gehört." Ich meine das
Schloß im Walde, wo Melitta wohnt? "Melitta?
aber, guter Herr, das ist ja nur ein altes Märchen."
Ein Märchen? "Nun gewiß! meine alte Großmutter
hat es mir, wer weiß wie oft, erzählt. -- Vor vielen,
vielen hundert Jahren stand in dieser Gegend ein
großer Wald; und in dem Walde hauste eine Fee, die
hieß Melitta. Sie hatte so wunderschöne, lichtgraue
Augen, wie sie ein Menschenkind gar nicht haben kann,
und eine honigsüße Stimme, und deswegen nannten
die Leute sie Melitta. Sie war die beste und schönste

mantik, ein kleiner ſtehen gebliebener Reſt von den
großen, großen Wäldern, die in Muſäus' Märchen
rauſchen; von dem Walde etwa, drin der Graf wohnte,
der ſeine Töchter verkaufte, wenn er die Wechſel am
Verfalltage nicht einlöſen konnte, — eine Manier, ſeine
Schulden zu bezahlen, die ſelbſt noch heutzutage im
Schwang ſein ſoll. Und wer nun in dieſem Walde
einſchläft, wozu ich große Luſt verſpüre, ſchläft ſo ein
paar hundert Jährchen, ehe er's ſich verſieht, und wenn
er aufwacht, wallt ihm ein ſchneeweißer Bart bis zum
Gürtel. Darob geräth er denn in gerechtes Erſtaunen,
und er fragt den erſten Bauer, der ihm begegnet, ob
er ihm nicht den Weg nach Berkow zeigen könne?
„Berkow?“ antwortet der Angeredete höflich. „Habe
nie von einem ſolchen Ort gehört.“ Ich meine das
Schloß im Walde, wo Melitta wohnt? „Melitta?
aber, guter Herr, das iſt ja nur ein altes Märchen.“
Ein Märchen? „Nun gewiß! meine alte Großmutter
hat es mir, wer weiß wie oft, erzählt. — Vor vielen,
vielen hundert Jahren ſtand in dieſer Gegend ein
großer Wald; und in dem Walde hauſte eine Fee, die
hieß Melitta. Sie hatte ſo wunderſchöne, lichtgraue
Augen, wie ſie ein Menſchenkind gar nicht haben kann,
und eine honigſüße Stimme, und deswegen nannten
die Leute ſie Melitta. Sie war die beſte und ſchönſte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0144" n="134"/>
mantik, ein kleiner &#x017F;tehen gebliebener Re&#x017F;t von den<lb/>
großen, großen Wäldern, die in Mu&#x017F;äus' Märchen<lb/>
rau&#x017F;chen; von dem Walde etwa, drin der Graf wohnte,<lb/>
der &#x017F;eine Töchter verkaufte, wenn er die Wech&#x017F;el am<lb/>
Verfalltage nicht einlö&#x017F;en konnte, &#x2014; eine Manier, &#x017F;eine<lb/>
Schulden zu bezahlen, die &#x017F;elb&#x017F;t noch heutzutage im<lb/>
Schwang &#x017F;ein &#x017F;oll. Und wer nun in die&#x017F;em Walde<lb/>
ein&#x017F;chläft, wozu ich große Lu&#x017F;t ver&#x017F;püre, &#x017F;chläft &#x017F;o ein<lb/>
paar hundert Jährchen, ehe er's &#x017F;ich ver&#x017F;ieht, und wenn<lb/>
er aufwacht, wallt ihm ein &#x017F;chneeweißer Bart bis zum<lb/>
Gürtel. Darob geräth er denn in gerechtes Er&#x017F;taunen,<lb/>
und er fragt den er&#x017F;ten Bauer, der ihm begegnet, ob<lb/>
er ihm nicht den Weg nach Berkow zeigen könne?<lb/>
&#x201E;Berkow?&#x201C; antwortet der Angeredete höflich. &#x201E;Habe<lb/>
nie von einem &#x017F;olchen Ort gehört.&#x201C; Ich meine das<lb/>
Schloß im Walde, wo Melitta wohnt? &#x201E;Melitta?<lb/>
aber, guter Herr, das i&#x017F;t ja nur ein altes Märchen.&#x201C;<lb/>
Ein Märchen? &#x201E;Nun gewiß! meine alte Großmutter<lb/>
hat es mir, wer weiß wie oft, erzählt. &#x2014; Vor vielen,<lb/>
vielen hundert Jahren &#x017F;tand in die&#x017F;er Gegend ein<lb/>
großer Wald; und in dem Walde hau&#x017F;te eine Fee, die<lb/>
hieß Melitta. Sie hatte &#x017F;o wunder&#x017F;chöne, lichtgraue<lb/>
Augen, wie &#x017F;ie ein Men&#x017F;chenkind gar nicht haben kann,<lb/>
und eine honig&#x017F;üße Stimme, und deswegen nannten<lb/>
die Leute &#x017F;ie Melitta. Sie war die be&#x017F;te und &#x017F;chön&#x017F;te<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[134/0144] mantik, ein kleiner ſtehen gebliebener Reſt von den großen, großen Wäldern, die in Muſäus' Märchen rauſchen; von dem Walde etwa, drin der Graf wohnte, der ſeine Töchter verkaufte, wenn er die Wechſel am Verfalltage nicht einlöſen konnte, — eine Manier, ſeine Schulden zu bezahlen, die ſelbſt noch heutzutage im Schwang ſein ſoll. Und wer nun in dieſem Walde einſchläft, wozu ich große Luſt verſpüre, ſchläft ſo ein paar hundert Jährchen, ehe er's ſich verſieht, und wenn er aufwacht, wallt ihm ein ſchneeweißer Bart bis zum Gürtel. Darob geräth er denn in gerechtes Erſtaunen, und er fragt den erſten Bauer, der ihm begegnet, ob er ihm nicht den Weg nach Berkow zeigen könne? „Berkow?“ antwortet der Angeredete höflich. „Habe nie von einem ſolchen Ort gehört.“ Ich meine das Schloß im Walde, wo Melitta wohnt? „Melitta? aber, guter Herr, das iſt ja nur ein altes Märchen.“ Ein Märchen? „Nun gewiß! meine alte Großmutter hat es mir, wer weiß wie oft, erzählt. — Vor vielen, vielen hundert Jahren ſtand in dieſer Gegend ein großer Wald; und in dem Walde hauſte eine Fee, die hieß Melitta. Sie hatte ſo wunderſchöne, lichtgraue Augen, wie ſie ein Menſchenkind gar nicht haben kann, und eine honigſüße Stimme, und deswegen nannten die Leute ſie Melitta. Sie war die beſte und ſchönſte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/144
Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/144>, abgerufen am 27.04.2024.