Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

und es unterwegs in einem hohlen Baume ver-
borgen.

Da nur die Furcht vor Entdeckung ihr so sel-
tene Kräfte verliehen hatte, so sank sie nach die-
ser kurzen Erzählung kraftlos nieder, war erst
Nachmittags um zwei Uhr im Stande, den Ort,
wo sie das Kind verborgen hatte, genau zu be-
schreiben. Es dämmerte daher schon mächtig,
als der Richter mit dem todten Kinde vor dem
herrschaftlichen Gerichte erschien, und die That
anzeigte. Noch stak im Munde des Kleinen das
Stroh, mit welchem die angstvolle Mutter es zu
ersticken versucht hatte, wie der Oberamtmann
nebst dem eben anwesenden Forstmeister in die Ge-
richtsstube trat, um die Aussage des Richters zu
protokolliren. Der Richter legte das Kind auf
einen Tisch, sein Gesicht war dunkelblau, und der
Körper, wegen der starken Kälte ganz steif. Der
mitleidige Forstmeister trat hinzu, und zog dem
Armen das Stroh aus dem Munde, ihm schiens,
als ob das Kind einigemal zu athmen versuche,
er wandte sogleich alle Rettungsmittel an, und in
einer halben Stunde gab das Kind unverkenn-
bare Lebenszeichen.

Da mich Gott, sprach der Edle, zu deinem
Retter bestimmte, da er mir nicht das Glück ge-
währte, eigne Kinder zu erziehen, so will ich
Vaterspflicht an dir erfüllen, und dich, wenn ich
dich ganz rette, als mein eignes Kind annehmen.

Zweit. Bändch. G

und es unterwegs in einem hohlen Baume ver-
borgen.

Da nur die Furcht vor Entdeckung ihr ſo ſel-
tene Kraͤfte verliehen hatte, ſo ſank ſie nach die-
ſer kurzen Erzaͤhlung kraftlos nieder, war erſt
Nachmittags um zwei Uhr im Stande, den Ort,
wo ſie das Kind verborgen hatte, genau zu be-
ſchreiben. Es daͤmmerte daher ſchon maͤchtig,
als der Richter mit dem todten Kinde vor dem
herrſchaftlichen Gerichte erſchien, und die That
anzeigte. Noch ſtak im Munde des Kleinen das
Stroh, mit welchem die angſtvolle Mutter es zu
erſticken verſucht hatte, wie der Oberamtmann
nebſt dem eben anweſenden Forſtmeiſter in die Ge-
richtsſtube trat, um die Ausſage des Richters zu
protokolliren. Der Richter legte das Kind auf
einen Tiſch, ſein Geſicht war dunkelblau, und der
Koͤrper, wegen der ſtarken Kaͤlte ganz ſteif. Der
mitleidige Forſtmeiſter trat hinzu, und zog dem
Armen das Stroh aus dem Munde, ihm ſchiens,
als ob das Kind einigemal zu athmen verſuche,
er wandte ſogleich alle Rettungsmittel an, und in
einer halben Stunde gab das Kind unverkenn-
bare Lebenszeichen.

Da mich Gott, ſprach der Edle, zu deinem
Retter beſtimmte, da er mir nicht das Gluͤck ge-
waͤhrte, eigne Kinder zu erziehen, ſo will ich
Vaterspflicht an dir erfuͤllen, und dich, wenn ich
dich ganz rette, als mein eignes Kind annehmen.

Zweit. Baͤndch. G
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0105" n="97"/>
und es unterwegs in einem hohlen Baume ver-<lb/>
borgen.</p><lb/>
        <p>Da nur die Furcht vor Entdeckung ihr &#x017F;o &#x017F;el-<lb/>
tene Kra&#x0364;fte verliehen hatte, &#x017F;o &#x017F;ank &#x017F;ie nach die-<lb/>
&#x017F;er kurzen Erza&#x0364;hlung kraftlos nieder, war er&#x017F;t<lb/>
Nachmittags um zwei Uhr im Stande, den Ort,<lb/>
wo &#x017F;ie das Kind verborgen hatte, genau zu be-<lb/>
&#x017F;chreiben. Es da&#x0364;mmerte daher &#x017F;chon ma&#x0364;chtig,<lb/>
als der Richter mit dem todten Kinde vor dem<lb/>
herr&#x017F;chaftlichen Gerichte er&#x017F;chien, und die That<lb/>
anzeigte. Noch &#x017F;tak im Munde des Kleinen das<lb/>
Stroh, mit welchem die ang&#x017F;tvolle Mutter es zu<lb/>
er&#x017F;ticken ver&#x017F;ucht hatte, wie der Oberamtmann<lb/>
neb&#x017F;t dem eben anwe&#x017F;enden For&#x017F;tmei&#x017F;ter in die Ge-<lb/>
richts&#x017F;tube trat, um die Aus&#x017F;age des Richters zu<lb/>
protokolliren. Der Richter legte das Kind auf<lb/>
einen Ti&#x017F;ch, &#x017F;ein Ge&#x017F;icht war dunkelblau, und der<lb/>
Ko&#x0364;rper, wegen der &#x017F;tarken Ka&#x0364;lte ganz &#x017F;teif. Der<lb/>
mitleidige For&#x017F;tmei&#x017F;ter trat hinzu, und zog dem<lb/>
Armen das Stroh aus dem Munde, ihm &#x017F;chiens,<lb/>
als ob das Kind einigemal zu athmen ver&#x017F;uche,<lb/>
er wandte &#x017F;ogleich alle Rettungsmittel an, und in<lb/>
einer halben Stunde gab das Kind unverkenn-<lb/>
bare Lebenszeichen.</p><lb/>
        <p>Da mich Gott, &#x017F;prach der Edle, zu deinem<lb/>
Retter be&#x017F;timmte, da er mir nicht das Glu&#x0364;ck ge-<lb/>
wa&#x0364;hrte, eigne Kinder zu erziehen, &#x017F;o will ich<lb/>
Vaterspflicht an dir erfu&#x0364;llen, und dich, wenn ich<lb/>
dich ganz rette, als mein eignes Kind annehmen.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Zweit. Ba&#x0364;ndch. G</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[97/0105] und es unterwegs in einem hohlen Baume ver- borgen. Da nur die Furcht vor Entdeckung ihr ſo ſel- tene Kraͤfte verliehen hatte, ſo ſank ſie nach die- ſer kurzen Erzaͤhlung kraftlos nieder, war erſt Nachmittags um zwei Uhr im Stande, den Ort, wo ſie das Kind verborgen hatte, genau zu be- ſchreiben. Es daͤmmerte daher ſchon maͤchtig, als der Richter mit dem todten Kinde vor dem herrſchaftlichen Gerichte erſchien, und die That anzeigte. Noch ſtak im Munde des Kleinen das Stroh, mit welchem die angſtvolle Mutter es zu erſticken verſucht hatte, wie der Oberamtmann nebſt dem eben anweſenden Forſtmeiſter in die Ge- richtsſtube trat, um die Ausſage des Richters zu protokolliren. Der Richter legte das Kind auf einen Tiſch, ſein Geſicht war dunkelblau, und der Koͤrper, wegen der ſtarken Kaͤlte ganz ſteif. Der mitleidige Forſtmeiſter trat hinzu, und zog dem Armen das Stroh aus dem Munde, ihm ſchiens, als ob das Kind einigemal zu athmen verſuche, er wandte ſogleich alle Rettungsmittel an, und in einer halben Stunde gab das Kind unverkenn- bare Lebenszeichen. Da mich Gott, ſprach der Edle, zu deinem Retter beſtimmte, da er mir nicht das Gluͤck ge- waͤhrte, eigne Kinder zu erziehen, ſo will ich Vaterspflicht an dir erfuͤllen, und dich, wenn ich dich ganz rette, als mein eignes Kind annehmen. Zweit. Baͤndch. G

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/105
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/105>, abgerufen am 19.05.2024.