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Sprengel, Christian Konrad: Das entdeckte Geheimniss der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen. Berlin, 1793.

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[Spaltenumbruch]

Lamium.
benen Linien geziert, welche in die Röhre hineinlaufen. Die
Oberlippe hingegen hat keine solche Flecke oder Linien, weil dieses
ohne Nutzen seyn würde. Jedoch ist sie auf der äußeren Seite
von gesättigterer Farbe, als auf der inneren, damit sie, weil sie
zwischen den Blättern hervorragt, den über der Pflanze umher-
fliegenden Insekten desto besser in die Augen falle.

Auch diese Blume ist ein Dichogamist, und zwar von der
männlich, weiblichen Art. Denn anfangs, wann die Antheren
voller Staub sind, hat der Griffel mit den Filamenten eine gleiche
Stellung, und das Stigma liegt zwischen, oder ein wenig hinter
den Antheren, und hat sich noch nicht von einander gegeben.
Nach einiger Zeit aber krümmet sich der Griffel vorwärts, so daß
man, wenn man die Blume von der Seite besieht, das Stigma
sehen kann, Fig. 11., und das Stigma bieget seine beide Theile
von einander.

Als ich im April des nächstvergangenen Jahres in der Mit-
tagsstunde in einen vor der Stadt gelegenen Garten gegangen
war, in der Absicht, Bienen auf dem Märzveilchen (Viola odo-
rata
) zu beobachten: so schlug mir diese Absicht fehl; denn es ließ
sich keine Biene weder hören noch sehen, weil es kühles Wetter
war, auch zu regnen anfing. Indessen hörete ich eine Hummel
summen, und ich traf dieselbe auf dem Lamium purpureum,
welches auf dem noch nicht umgegrabenen Lande in großem Ue-
berfluß stand, in voller Arbeit an. Sie hatte die Grösse einer
Biene. Ich schlich mich an dieselbe hinan, und sahe, indem sie
von einer Blume auf eine andere flog, daß sie vorne am Kopf
zwischen den Augen einen zinnoberrothen Fleck hatte. Da nun
der Antherenstaub eben so gefärbt ist, so sahe ich leicht ein, daß
dieser Fleck weiter nichts als Staub war, welchen sie, indem sie
auf den Blumen saß, und ihren Saugerüssel in den Safthalter
hineinsteckte, mit den zwischen ihren Augen befindlichen Haaren
abgestreift hatte. Sie konnte nemlich nicht anders zum Saft ge-
langen, als in eben derjenigen Stellung, in welcher ich eine grössere
Hummel auf der Stachys syluatica angetroffen habe, Tab. XXIII.
9. In dieser Stellung mußte sie nun nothwendig mit jenem Theil
ihres Vorderkopfs die Antheren der jüngeren Blumen berühren,
und ihren Staub abstreifen. Aber eben so nothwendig mußte sie
mit diesem bestäubten Theil das Stigma der älteren Blumen be-
rühren, und dasselbe mit Staube versehen. Hievon überzeugte
mich auch bald der Augenschein. Denn an einigen älteren Blumen
bemerkte ich, daß die Spitzen des weißen Stigma mit zinnober-
rothem Staube versehen waren; in anderen fand ich dieses nicht.
Jene waren von der Hummel besucht worden, diese nicht. Diese
Erfahrung beweiset also unumstößlich, daß und wie diese Blume
von dieser Hummel befruchtet wird.

[Spaltenumbruch]
Lamium.

Diese Beobachtung war mir zu wichtig, als daß ich nicht
hätte wünschen sollen, dieser Hummel habhaft zu werden, um
ihren Kopf abzuzeichnen. Es glückte mir, sie zu fangen. Als
ich sie mit einer Stecknadel durchspießte, fieng sie auf einmal auf
eine ganz andere Art zu summen an, als vorher. Dies Summen
hatte wirklich eine Aehnlichkeit mit dem Geschrey, welches ein
Mensch erhebt, dem Gewalt und Unrecht geschieht. Von dem
Staube fand ich noch genug auf dem Vorderkopf, obgleich ein
Theil desselben von dem Schnupftuch, mit welchem ich sie fieng,
war abgewischt worden.

Wer muß nicht den künstlichen Bau sowohl dieser Blume,
als auch dieser Hummel bewundern? Wer sieht nicht ein, daß
der Schöpfer jene für diese, und diese für jene bestimmt, und
eine jede von beiden so gebildet hat, als es das Bedürfniß der an-
deren erforderte?

Auch die Bienen besuchen die Blume sehr häufig, und be-
kommen alsdenn auch einen zinnoberrothen Fleck vor der Stirne.
Sie sammlen aber nicht bloß Saft, sondern auch Staub, wel-
chen ich an ihren Hinterbeinen bemerkte, und wegen seiner Farbe
leicht erkennen konnte.

Da diese Blume ein Saftmaal hat, so ist sie eine Tages-
blume, und bricht des Morgens auf. Dies beweise ich durch fol-
genden Versuch. Ich brach in der Mittagsstunde zwanzig Sten-
gel ab, und stellte dieselben, nachdem ich alle blühende Kronen
abgerissen hatte, Nachmittags um 1 Uhr ins Wasser. Abends
um halb 11 Uhr besahe ich dieselben, und fand keine einzige neue
Blume. Am folgenden Morgen um 5 Uhr fand ich 14 junge
Blumen, um halb 7 Uhr 19, um 8 Uhr 26, um 9 Uhr 27, um
11 Uhr 27, um 12 Uhr 27, Nachmittags um 3 Uhr 27, um
6 Uhr 28, Abends um halb 9 Uhr 28. Nun riß ich die Kronen
sämtlich ab. Am folgenden Morgen um 5 Uhr fand ich 52 neue
Blumen, um halb 7 Uhr 66, um 8 Uhr 85, um 9 Uhr 88, um
11 Uhr 88, Nachmittags um 2 Uhr 88, um halb 5 Uhr 88,
Abends um halb 10 Uhr 89. Ich riß die Kronen dieser Blumen
ab, und fand am folgenden Morgen um 5 Uhr 103 Blumen, um
8 Uhr 124, um 11 Uhr 127, Nachmittags um 1 Uhr 127, um
halb 4 Uhr 127.

Ich habe diesen Versuch um so viel lieber mit dieser Blume
angestellt, da dieselbe allenthalben leicht zu haben ist, damit ein
Jeder, der sich durch seine eigene Erfahrung überzeugen will,
denselben desto leichter wiederholen könne. Jedoch muß man sich
bey demselben nach der Natur richten, und die Blumen an einen
solchen Ort hinstellen, wo sie den ganzen Tag hindurch den Son-
nenstrahlen ausgesetzt sind.

U

[Spaltenumbruch]

Lamium.
benen Linien geziert, welche in die Roͤhre hineinlaufen. Die
Oberlippe hingegen hat keine ſolche Flecke oder Linien, weil dieſes
ohne Nutzen ſeyn wuͤrde. Jedoch iſt ſie auf der aͤußeren Seite
von geſaͤttigterer Farbe, als auf der inneren, damit ſie, weil ſie
zwiſchen den Blaͤttern hervorragt, den uͤber der Pflanze umher-
fliegenden Inſekten deſto beſſer in die Augen falle.

Auch dieſe Blume iſt ein Dichogamiſt, und zwar von der
maͤnnlich, weiblichen Art. Denn anfangs, wann die Antheren
voller Staub ſind, hat der Griffel mit den Filamenten eine gleiche
Stellung, und das Stigma liegt zwiſchen, oder ein wenig hinter
den Antheren, und hat ſich noch nicht von einander gegeben.
Nach einiger Zeit aber kruͤmmet ſich der Griffel vorwaͤrts, ſo daß
man, wenn man die Blume von der Seite beſieht, das Stigma
ſehen kann, Fig. 11., und das Stigma bieget ſeine beide Theile
von einander.

Als ich im April des naͤchſtvergangenen Jahres in der Mit-
tagsſtunde in einen vor der Stadt gelegenen Garten gegangen
war, in der Abſicht, Bienen auf dem Maͤrzveilchen (Viola odo-
rata
) zu beobachten: ſo ſchlug mir dieſe Abſicht fehl; denn es ließ
ſich keine Biene weder hoͤren noch ſehen, weil es kuͤhles Wetter
war, auch zu regnen anfing. Indeſſen hoͤrete ich eine Hummel
ſummen, und ich traf dieſelbe auf dem Lamium purpureum,
welches auf dem noch nicht umgegrabenen Lande in großem Ue-
berfluß ſtand, in voller Arbeit an. Sie hatte die Groͤſſe einer
Biene. Ich ſchlich mich an dieſelbe hinan, und ſahe, indem ſie
von einer Blume auf eine andere flog, daß ſie vorne am Kopf
zwiſchen den Augen einen zinnoberrothen Fleck hatte. Da nun
der Antherenſtaub eben ſo gefaͤrbt iſt, ſo ſahe ich leicht ein, daß
dieſer Fleck weiter nichts als Staub war, welchen ſie, indem ſie
auf den Blumen ſaß, und ihren Saugeruͤſſel in den Safthalter
hineinſteckte, mit den zwiſchen ihren Augen befindlichen Haaren
abgeſtreift hatte. Sie konnte nemlich nicht anders zum Saft ge-
langen, als in eben derjenigen Stellung, in welcher ich eine groͤſſere
Hummel auf der Stachys ſyluatica angetroffen habe, Tab. XXIII.
9. In dieſer Stellung mußte ſie nun nothwendig mit jenem Theil
ihres Vorderkopfs die Antheren der juͤngeren Blumen beruͤhren,
und ihren Staub abſtreifen. Aber eben ſo nothwendig mußte ſie
mit dieſem beſtaͤubten Theil das Stigma der aͤlteren Blumen be-
ruͤhren, und daſſelbe mit Staube verſehen. Hievon uͤberzeugte
mich auch bald der Augenſchein. Denn an einigen aͤlteren Blumen
bemerkte ich, daß die Spitzen des weißen Stigma mit zinnober-
rothem Staube verſehen waren; in anderen fand ich dieſes nicht.
Jene waren von der Hummel beſucht worden, dieſe nicht. Dieſe
Erfahrung beweiſet alſo unumſtoͤßlich, daß und wie dieſe Blume
von dieſer Hummel befruchtet wird.

[Spaltenumbruch]
Lamium.

Dieſe Beobachtung war mir zu wichtig, als daß ich nicht
haͤtte wuͤnſchen ſollen, dieſer Hummel habhaft zu werden, um
ihren Kopf abzuzeichnen. Es gluͤckte mir, ſie zu fangen. Als
ich ſie mit einer Stecknadel durchſpießte, fieng ſie auf einmal auf
eine ganz andere Art zu ſummen an, als vorher. Dies Summen
hatte wirklich eine Aehnlichkeit mit dem Geſchrey, welches ein
Menſch erhebt, dem Gewalt und Unrecht geſchieht. Von dem
Staube fand ich noch genug auf dem Vorderkopf, obgleich ein
Theil deſſelben von dem Schnupftuch, mit welchem ich ſie fieng,
war abgewiſcht worden.

Wer muß nicht den kuͤnſtlichen Bau ſowohl dieſer Blume,
als auch dieſer Hummel bewundern? Wer ſieht nicht ein, daß
der Schoͤpfer jene fuͤr dieſe, und dieſe fuͤr jene beſtimmt, und
eine jede von beiden ſo gebildet hat, als es das Beduͤrfniß der an-
deren erforderte?

Auch die Bienen beſuchen die Blume ſehr haͤufig, und be-
kommen alsdenn auch einen zinnoberrothen Fleck vor der Stirne.
Sie ſammlen aber nicht bloß Saft, ſondern auch Staub, wel-
chen ich an ihren Hinterbeinen bemerkte, und wegen ſeiner Farbe
leicht erkennen konnte.

Da dieſe Blume ein Saftmaal hat, ſo iſt ſie eine Tages-
blume, und bricht des Morgens auf. Dies beweiſe ich durch fol-
genden Verſuch. Ich brach in der Mittagsſtunde zwanzig Sten-
gel ab, und ſtellte dieſelben, nachdem ich alle bluͤhende Kronen
abgeriſſen hatte, Nachmittags um 1 Uhr ins Waſſer. Abends
um halb 11 Uhr beſahe ich dieſelben, und fand keine einzige neue
Blume. Am folgenden Morgen um 5 Uhr fand ich 14 junge
Blumen, um halb 7 Uhr 19, um 8 Uhr 26, um 9 Uhr 27, um
11 Uhr 27, um 12 Uhr 27, Nachmittags um 3 Uhr 27, um
6 Uhr 28, Abends um halb 9 Uhr 28. Nun riß ich die Kronen
ſaͤmtlich ab. Am folgenden Morgen um 5 Uhr fand ich 52 neue
Blumen, um halb 7 Uhr 66, um 8 Uhr 85, um 9 Uhr 88, um
11 Uhr 88, Nachmittags um 2 Uhr 88, um halb 5 Uhr 88,
Abends um halb 10 Uhr 89. Ich riß die Kronen dieſer Blumen
ab, und fand am folgenden Morgen um 5 Uhr 103 Blumen, um
8 Uhr 124, um 11 Uhr 127, Nachmittags um 1 Uhr 127, um
halb 4 Uhr 127.

Ich habe dieſen Verſuch um ſo viel lieber mit dieſer Blume
angeſtellt, da dieſelbe allenthalben leicht zu haben iſt, damit ein
Jeder, der ſich durch ſeine eigene Erfahrung uͤberzeugen will,
denſelben deſto leichter wiederholen koͤnne. Jedoch muß man ſich
bey demſelben nach der Natur richten, und die Blumen an einen
ſolchen Ort hinſtellen, wo ſie den ganzen Tag hindurch den Son-
nenſtrahlen ausgeſetzt ſind.

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Jene waren von der Hummel beſucht worden, dieſe nicht. Dieſe Erfahrung beweiſet alſo unumſtoͤßlich, daß und wie dieſe Blume von dieſer Hummel befruchtet wird. Dieſe Beobachtung war mir zu wichtig, als daß ich nicht haͤtte wuͤnſchen ſollen, dieſer Hummel habhaft zu werden, um ihren Kopf abzuzeichnen. Es gluͤckte mir, ſie zu fangen. Als ich ſie mit einer Stecknadel durchſpießte, fieng ſie auf einmal auf eine ganz andere Art zu ſummen an, als vorher. Dies Summen hatte wirklich eine Aehnlichkeit mit dem Geſchrey, welches ein Menſch erhebt, dem Gewalt und Unrecht geſchieht. Von dem Staube fand ich noch genug auf dem Vorderkopf, obgleich ein Theil deſſelben von dem Schnupftuch, mit welchem ich ſie fieng, war abgewiſcht worden. Wer muß nicht den kuͤnſtlichen Bau ſowohl dieſer Blume, als auch dieſer Hummel bewundern? Wer ſieht nicht ein, daß der Schoͤpfer jene fuͤr dieſe, und dieſe fuͤr jene beſtimmt, und eine jede von beiden ſo gebildet hat, als es das Beduͤrfniß der an- deren erforderte? Auch die Bienen beſuchen die Blume ſehr haͤufig, und be- kommen alsdenn auch einen zinnoberrothen Fleck vor der Stirne. Sie ſammlen aber nicht bloß Saft, ſondern auch Staub, wel- chen ich an ihren Hinterbeinen bemerkte, und wegen ſeiner Farbe leicht erkennen konnte. Da dieſe Blume ein Saftmaal hat, ſo iſt ſie eine Tages- blume, und bricht des Morgens auf. Dies beweiſe ich durch fol- genden Verſuch. Ich brach in der Mittagsſtunde zwanzig Sten- gel ab, und ſtellte dieſelben, nachdem ich alle bluͤhende Kronen abgeriſſen hatte, Nachmittags um 1 Uhr ins Waſſer. Abends um halb 11 Uhr beſahe ich dieſelben, und fand keine einzige neue Blume. Am folgenden Morgen um 5 Uhr fand ich 14 junge Blumen, um halb 7 Uhr 19, um 8 Uhr 26, um 9 Uhr 27, um 11 Uhr 27, um 12 Uhr 27, Nachmittags um 3 Uhr 27, um 6 Uhr 28, Abends um halb 9 Uhr 28. Nun riß ich die Kronen ſaͤmtlich ab. Am folgenden Morgen um 5 Uhr fand ich 52 neue Blumen, um halb 7 Uhr 66, um 8 Uhr 85, um 9 Uhr 88, um 11 Uhr 88, Nachmittags um 2 Uhr 88, um halb 5 Uhr 88, Abends um halb 10 Uhr 89. Ich riß die Kronen dieſer Blumen ab, und fand am folgenden Morgen um 5 Uhr 103 Blumen, um 8 Uhr 124, um 11 Uhr 127, Nachmittags um 1 Uhr 127, um halb 4 Uhr 127. Ich habe dieſen Verſuch um ſo viel lieber mit dieſer Blume angeſtellt, da dieſelbe allenthalben leicht zu haben iſt, damit ein Jeder, der ſich durch ſeine eigene Erfahrung uͤberzeugen will, denſelben deſto leichter wiederholen koͤnne. Jedoch muß man ſich bey demſelben nach der Natur richten, und die Blumen an einen ſolchen Ort hinſtellen, wo ſie den ganzen Tag hindurch den Son- nenſtrahlen ausgeſetzt ſind. U

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Zitationshilfe: Sprengel, Christian Konrad: Das entdeckte Geheimniss der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen. Berlin, 1793, S. [165]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sprengel_blumen_1793/165>, abgerufen am 29.04.2024.