Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

Die mittleren Staaten haben unter Vorgang der südlichen
Staaten überhaupt staatsbürgerliche Verfassungen. Die letzteren haben
das landschaftliche Element gleich anfangs beseitigt, indem sie es in die
erste Kammer aufnahmen, meistens auf Grundlage der alten standes-
herrlichen Rechte. Darin besteht denn auch der Unterschied zwischen
ihnen und dem Vorbilde, aus welchem diese "Constitutionen" herstam-
men, der französischen Verfassung. Dennoch blieb das Bedürfniß, der
Vertretung des Volkes auch an der Verwaltung einen Antheil zu geben.
Da nun diese Staaten für die Bildung eigener Landschaften zu klein
waren, so mußten sie eine innere Eintheilung von Vertretung hervor-
rufen, welche zuweilen unter dem Namen von Landschaften (Hannover)
oder Kreisen (Bayern) im Grunde nur Complexe von Gemeinden waren,
bei denen aber theils nach dem französischen, theils nach preußischem
Muster keine wahre Landschaft, sondern nur eine Vertretung an der
Seite der höchsten örtlichen Behörde stattfindet. Wir nehmen diese
Formationen daher unbedenklich unter das folgende Gebiet auf. Wenn
daneben Oldenburg (Staatsgrundgesetz Art. 199) noch eigene Provin-
ziallandtage fortführt, so hat das vorzugsweise seinen Grund in geo-
graphischen Verhältnissen.

In Preußen sehen wir dagegen den Kampf ganz deutlich, den
die Landschaft mit der Idee und dem Rechte der staatsbürgerlichen Ver-
fassung kämpft; hier ist nächst Oesterreich das Wesen der Landschaft
am deutlichsten ausgeprägt. Aus dem Versprechen einer Nationalreprä-
sentation (Ed. v. 27. Okt. 1810) waren nur bis 1823 die Provinzial-
landstände hervorgegangen. Aus ihnen ging dann der "Vereinigte Land-
tag" vom 3. December 1847 hervor. Der tiefere Grund, weßhalb er
dem Volke nicht entsprach, bestand eben in dem Wesen der Landschaft.
Sie ist ein socialer Körper, und erst in zweiter Reihe ein politischer.
Die gegebene Gesellschaftsordnung aber forderte eine staatsbürgerliche
Verfassung. Diese nun ward 1850 gegeben. Und jetzt entstand die
Frage, ob es darnach noch eine Landschaft, das ist einen auf ständischer
socialer Selbständigkeit gebauten Selbstverwaltungskörper geben könne
oder nicht. Die Verfassung war sich dieser Frage sehr wohl bewußt. Sie
entschied sie zwar, und hob die alte Landschaft auf (Verfassungsurkunde
Art. 105 und Gesetz vom 11. März 1850), allein das preußische Ver-
fassungsleben war nicht kräftig genug, seinen eigenen Gedanken durch-
zuführen. Die Einführung der neuen Provinzial- und Bezirksordnung
vom 11. März 1850 ward durch königl. Erlaß vom 19. Juni 1852
sistirt, und durch Gesetz vom 24. Mai 1853 der Art. 105 aufgehoben,
und die früheren Gesetze über die Kreis- und Provinzialverfassungen
wieder in Kraft gesetzt. Demgemäß beruht, wie Rönne I. §. 109 sehr

Die mittleren Staaten haben unter Vorgang der ſüdlichen
Staaten überhaupt ſtaatsbürgerliche Verfaſſungen. Die letzteren haben
das landſchaftliche Element gleich anfangs beſeitigt, indem ſie es in die
erſte Kammer aufnahmen, meiſtens auf Grundlage der alten ſtandes-
herrlichen Rechte. Darin beſteht denn auch der Unterſchied zwiſchen
ihnen und dem Vorbilde, aus welchem dieſe „Conſtitutionen“ herſtam-
men, der franzöſiſchen Verfaſſung. Dennoch blieb das Bedürfniß, der
Vertretung des Volkes auch an der Verwaltung einen Antheil zu geben.
Da nun dieſe Staaten für die Bildung eigener Landſchaften zu klein
waren, ſo mußten ſie eine innere Eintheilung von Vertretung hervor-
rufen, welche zuweilen unter dem Namen von Landſchaften (Hannover)
oder Kreiſen (Bayern) im Grunde nur Complexe von Gemeinden waren,
bei denen aber theils nach dem franzöſiſchen, theils nach preußiſchem
Muſter keine wahre Landſchaft, ſondern nur eine Vertretung an der
Seite der höchſten örtlichen Behörde ſtattfindet. Wir nehmen dieſe
Formationen daher unbedenklich unter das folgende Gebiet auf. Wenn
daneben Oldenburg (Staatsgrundgeſetz Art. 199) noch eigene Provin-
ziallandtage fortführt, ſo hat das vorzugsweiſe ſeinen Grund in geo-
graphiſchen Verhältniſſen.

In Preußen ſehen wir dagegen den Kampf ganz deutlich, den
die Landſchaft mit der Idee und dem Rechte der ſtaatsbürgerlichen Ver-
faſſung kämpft; hier iſt nächſt Oeſterreich das Weſen der Landſchaft
am deutlichſten ausgeprägt. Aus dem Verſprechen einer Nationalreprä-
ſentation (Ed. v. 27. Okt. 1810) waren nur bis 1823 die Provinzial-
landſtände hervorgegangen. Aus ihnen ging dann der „Vereinigte Land-
tag“ vom 3. December 1847 hervor. Der tiefere Grund, weßhalb er
dem Volke nicht entſprach, beſtand eben in dem Weſen der Landſchaft.
Sie iſt ein ſocialer Körper, und erſt in zweiter Reihe ein politiſcher.
Die gegebene Geſellſchaftsordnung aber forderte eine ſtaatsbürgerliche
Verfaſſung. Dieſe nun ward 1850 gegeben. Und jetzt entſtand die
Frage, ob es darnach noch eine Landſchaft, das iſt einen auf ſtändiſcher
ſocialer Selbſtändigkeit gebauten Selbſtverwaltungskörper geben könne
oder nicht. Die Verfaſſung war ſich dieſer Frage ſehr wohl bewußt. Sie
entſchied ſie zwar, und hob die alte Landſchaft auf (Verfaſſungsurkunde
Art. 105 und Geſetz vom 11. März 1850), allein das preußiſche Ver-
faſſungsleben war nicht kräftig genug, ſeinen eigenen Gedanken durch-
zuführen. Die Einführung der neuen Provinzial- und Bezirksordnung
vom 11. März 1850 ward durch königl. Erlaß vom 19. Juni 1852
ſiſtirt, und durch Geſetz vom 24. Mai 1853 der Art. 105 aufgehoben,
und die früheren Geſetze über die Kreis- und Provinzialverfaſſungen
wieder in Kraft geſetzt. Demgemäß beruht, wie Rönne I. §. 109 ſehr

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0454" n="430"/>
                <p>Die <hi rendition="#g">mittleren</hi> Staaten haben unter Vorgang der &#x017F;üdlichen<lb/>
Staaten überhaupt &#x017F;taatsbürgerliche Verfa&#x017F;&#x017F;ungen. Die letzteren haben<lb/>
das land&#x017F;chaftliche Element gleich anfangs be&#x017F;eitigt, indem &#x017F;ie es in die<lb/>
er&#x017F;te Kammer aufnahmen, mei&#x017F;tens auf Grundlage der alten &#x017F;tandes-<lb/>
herrlichen Rechte. Darin be&#x017F;teht denn auch der Unter&#x017F;chied zwi&#x017F;chen<lb/>
ihnen und dem Vorbilde, aus welchem die&#x017F;e &#x201E;Con&#x017F;titutionen&#x201C; her&#x017F;tam-<lb/>
men, der franzö&#x017F;i&#x017F;chen Verfa&#x017F;&#x017F;ung. Dennoch blieb das Bedürfniß, der<lb/>
Vertretung des Volkes auch an der Verwaltung einen Antheil zu geben.<lb/>
Da nun die&#x017F;e Staaten für die Bildung eigener Land&#x017F;chaften zu klein<lb/>
waren, &#x017F;o mußten &#x017F;ie eine innere Eintheilung von Vertretung hervor-<lb/>
rufen, welche zuweilen unter dem Namen von Land&#x017F;chaften (Hannover)<lb/>
oder Krei&#x017F;en (Bayern) im Grunde nur Complexe von Gemeinden waren,<lb/>
bei denen aber theils nach dem franzö&#x017F;i&#x017F;chen, theils nach preußi&#x017F;chem<lb/>
Mu&#x017F;ter keine wahre Land&#x017F;chaft, &#x017F;ondern nur eine Vertretung an der<lb/>
Seite der höch&#x017F;ten örtlichen Behörde &#x017F;tattfindet. Wir nehmen die&#x017F;e<lb/>
Formationen daher unbedenklich unter das folgende Gebiet auf. Wenn<lb/>
daneben Oldenburg (Staatsgrundge&#x017F;etz Art. 199) noch eigene Provin-<lb/>
ziallandtage fortführt, &#x017F;o hat das vorzugswei&#x017F;e &#x017F;einen Grund in geo-<lb/>
graphi&#x017F;chen Verhältni&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
                <p>In <hi rendition="#g">Preußen</hi> &#x017F;ehen wir dagegen den Kampf ganz deutlich, den<lb/>
die Land&#x017F;chaft mit der Idee und dem Rechte der &#x017F;taatsbürgerlichen Ver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ung kämpft; hier i&#x017F;t näch&#x017F;t Oe&#x017F;terreich das We&#x017F;en der Land&#x017F;chaft<lb/>
am deutlich&#x017F;ten ausgeprägt. Aus dem Ver&#x017F;prechen einer Nationalreprä-<lb/>
&#x017F;entation (Ed. v. 27. Okt. 1810) waren nur bis 1823 die Provinzial-<lb/>
land&#x017F;tände hervorgegangen. Aus ihnen ging dann der &#x201E;Vereinigte Land-<lb/>
tag&#x201C; vom 3. December 1847 hervor. Der tiefere Grund, weßhalb er<lb/>
dem Volke nicht ent&#x017F;prach, be&#x017F;tand eben in dem We&#x017F;en der Land&#x017F;chaft.<lb/>
Sie i&#x017F;t ein &#x017F;ocialer Körper, und er&#x017F;t in zweiter Reihe ein politi&#x017F;cher.<lb/>
Die gegebene Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftsordnung aber forderte eine &#x017F;taatsbürgerliche<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ung. Die&#x017F;e nun ward 1850 gegeben. Und jetzt ent&#x017F;tand die<lb/>
Frage, ob es darnach noch eine Land&#x017F;chaft, das i&#x017F;t einen auf &#x017F;tändi&#x017F;cher<lb/>
&#x017F;ocialer Selb&#x017F;tändigkeit gebauten Selb&#x017F;tverwaltungskörper geben könne<lb/>
oder nicht. Die Verfa&#x017F;&#x017F;ung war &#x017F;ich die&#x017F;er Frage &#x017F;ehr wohl bewußt. Sie<lb/>
ent&#x017F;chied &#x017F;ie zwar, und hob die alte Land&#x017F;chaft auf (Verfa&#x017F;&#x017F;ungsurkunde<lb/>
Art. 105 und Ge&#x017F;etz vom 11. März 1850), allein das preußi&#x017F;che Ver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ungsleben war nicht kräftig genug, &#x017F;einen eigenen Gedanken durch-<lb/>
zuführen. Die Einführung der neuen Provinzial- und Bezirksordnung<lb/>
vom 11. März 1850 ward durch königl. Erlaß vom 19. Juni 1852<lb/>
&#x017F;i&#x017F;tirt, und durch Ge&#x017F;etz vom 24. Mai 1853 der Art. 105 aufgehoben,<lb/>
und die früheren Ge&#x017F;etze über die Kreis- und Provinzialverfa&#x017F;&#x017F;ungen<lb/>
wieder in Kraft ge&#x017F;etzt. Demgemäß beruht, wie Rönne <hi rendition="#aq">I.</hi> §. 109 &#x017F;ehr<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[430/0454] Die mittleren Staaten haben unter Vorgang der ſüdlichen Staaten überhaupt ſtaatsbürgerliche Verfaſſungen. Die letzteren haben das landſchaftliche Element gleich anfangs beſeitigt, indem ſie es in die erſte Kammer aufnahmen, meiſtens auf Grundlage der alten ſtandes- herrlichen Rechte. Darin beſteht denn auch der Unterſchied zwiſchen ihnen und dem Vorbilde, aus welchem dieſe „Conſtitutionen“ herſtam- men, der franzöſiſchen Verfaſſung. Dennoch blieb das Bedürfniß, der Vertretung des Volkes auch an der Verwaltung einen Antheil zu geben. Da nun dieſe Staaten für die Bildung eigener Landſchaften zu klein waren, ſo mußten ſie eine innere Eintheilung von Vertretung hervor- rufen, welche zuweilen unter dem Namen von Landſchaften (Hannover) oder Kreiſen (Bayern) im Grunde nur Complexe von Gemeinden waren, bei denen aber theils nach dem franzöſiſchen, theils nach preußiſchem Muſter keine wahre Landſchaft, ſondern nur eine Vertretung an der Seite der höchſten örtlichen Behörde ſtattfindet. Wir nehmen dieſe Formationen daher unbedenklich unter das folgende Gebiet auf. Wenn daneben Oldenburg (Staatsgrundgeſetz Art. 199) noch eigene Provin- ziallandtage fortführt, ſo hat das vorzugsweiſe ſeinen Grund in geo- graphiſchen Verhältniſſen. In Preußen ſehen wir dagegen den Kampf ganz deutlich, den die Landſchaft mit der Idee und dem Rechte der ſtaatsbürgerlichen Ver- faſſung kämpft; hier iſt nächſt Oeſterreich das Weſen der Landſchaft am deutlichſten ausgeprägt. Aus dem Verſprechen einer Nationalreprä- ſentation (Ed. v. 27. Okt. 1810) waren nur bis 1823 die Provinzial- landſtände hervorgegangen. Aus ihnen ging dann der „Vereinigte Land- tag“ vom 3. December 1847 hervor. Der tiefere Grund, weßhalb er dem Volke nicht entſprach, beſtand eben in dem Weſen der Landſchaft. Sie iſt ein ſocialer Körper, und erſt in zweiter Reihe ein politiſcher. Die gegebene Geſellſchaftsordnung aber forderte eine ſtaatsbürgerliche Verfaſſung. Dieſe nun ward 1850 gegeben. Und jetzt entſtand die Frage, ob es darnach noch eine Landſchaft, das iſt einen auf ſtändiſcher ſocialer Selbſtändigkeit gebauten Selbſtverwaltungskörper geben könne oder nicht. Die Verfaſſung war ſich dieſer Frage ſehr wohl bewußt. Sie entſchied ſie zwar, und hob die alte Landſchaft auf (Verfaſſungsurkunde Art. 105 und Geſetz vom 11. März 1850), allein das preußiſche Ver- faſſungsleben war nicht kräftig genug, ſeinen eigenen Gedanken durch- zuführen. Die Einführung der neuen Provinzial- und Bezirksordnung vom 11. März 1850 ward durch königl. Erlaß vom 19. Juni 1852 ſiſtirt, und durch Geſetz vom 24. Mai 1853 der Art. 105 aufgehoben, und die früheren Geſetze über die Kreis- und Provinzialverfaſſungen wieder in Kraft geſetzt. Demgemäß beruht, wie Rönne I. §. 109 ſehr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/454
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/454>, abgerufen am 28.04.2024.