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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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derselben ist keine Rede; Selbstverwaltung ist mithin eben so wenig
vorhanden, als Gemeindewesen. Die zweite Gestalt ist die des germa-
nischen Dorfes und der Dorfschaft mit ihrem an die Geschlechter
vertheilten freien Grundbesitz. Wir haben den Charakter derselben bereits
oben bezeichnet, und das was in ihm als Verwaltung gelten mag,
aufgestellt.

Der Rhein und die Donau scheiden diese beiden großen Grund-
formen auf dem Continent bis zur Völkerwanderung. Die Vernichtung
des römischen Reiches wirft sie durch einander. In die Municipien
kommen germanische Elemente hinein, in die Dörfer sowohl der germa-
nischen Länder als der neueroberten Länder wurden die romanischen
Elemente aufgenommen. Das alte Wesen und Recht beider war damit
gebrochen; das alte bestand nicht mehr, das neue war noch nicht
erschienen; von einer Gemeinde konnte noch keine Rede sein.

Die Gestalt und Ordnung, welche diese neue Bildung annahm,
bestimmte sich zuerst natürlich nach der allgemeinen Stellung jener
beiden großen Elemente. Die Germanen waren als Sieger die Herren;
die Romanen hatten nur den Herrn gewechselt. Eine unmittelbare
Verschmelzung fand nicht statt. Das Recht der römischen Herrschaft war
auf die Sieger übergegangen; aber sie verstanden den römischen, auf
der rein amtlichen Verwaltung ruhenden Staat nicht; sie hatten in der
Heimath ein öffentliches Recht nur in seiner innigsten Verbindung mit
dem Recht auf den Grundbesitz gekannt; sie konnten sich auch jetzt nur
die Herrschaft als Eigenthum am Grund und Boden denken. Das übrige,
die Selbstverwaltung der Grundbesitzer, verstand sich von selbst. Daraus
ging die Gestalt des innern Lebens hervor, welche wir als das Mittel-
alter bezeichnen. Ihr Princip ist das beinahe völlige Verschwinden der
Staatsverwaltung, und das ausschließliche Recht des freien Grundbesitzes
zur Selbstverwaltung auf eigenem Grund und Boden, und zwar nach
dem Falle der Karolingischen Dynastie für alle Gebiete der Verwal-
tung, Finanzen, Rechtspflege und Inneres, so weit davon die Rede
sein konnte. Da nun aber namentlich in den eroberten Ländern dieser
Grund und Boden an die einzelnen Krieger vertheilt war, so entstand
ein Verhältniß, dessen Grundlage der Satz war, daß nur derjenige
Grund und Boden ein vollkommen freier sei, der nicht von einem andern
Einzelnen, sondern nur vom Landesherrn dem Besitzer verliehen war.
Grundsätzlich schloß das Alle, die auf verliehenem Grund und Boden
saßen, von der alten Theilnahme an der Verwaltung aus, die ja auf
dem ursprünglich freien Besitz beruhte. Dieser Grundsatz verhielt sich
zunächst ganz gleichgültig gegen die volle persönliche Freiheit der Besitzer;
er konnte vollständig persönlich frei, und doch unfähig sein, an der

derſelben iſt keine Rede; Selbſtverwaltung iſt mithin eben ſo wenig
vorhanden, als Gemeindeweſen. Die zweite Geſtalt iſt die des germa-
niſchen Dorfes und der Dorfſchaft mit ihrem an die Geſchlechter
vertheilten freien Grundbeſitz. Wir haben den Charakter derſelben bereits
oben bezeichnet, und das was in ihm als Verwaltung gelten mag,
aufgeſtellt.

Der Rhein und die Donau ſcheiden dieſe beiden großen Grund-
formen auf dem Continent bis zur Völkerwanderung. Die Vernichtung
des römiſchen Reiches wirft ſie durch einander. In die Municipien
kommen germaniſche Elemente hinein, in die Dörfer ſowohl der germa-
niſchen Länder als der neueroberten Länder wurden die romaniſchen
Elemente aufgenommen. Das alte Weſen und Recht beider war damit
gebrochen; das alte beſtand nicht mehr, das neue war noch nicht
erſchienen; von einer Gemeinde konnte noch keine Rede ſein.

Die Geſtalt und Ordnung, welche dieſe neue Bildung annahm,
beſtimmte ſich zuerſt natürlich nach der allgemeinen Stellung jener
beiden großen Elemente. Die Germanen waren als Sieger die Herren;
die Romanen hatten nur den Herrn gewechſelt. Eine unmittelbare
Verſchmelzung fand nicht ſtatt. Das Recht der römiſchen Herrſchaft war
auf die Sieger übergegangen; aber ſie verſtanden den römiſchen, auf
der rein amtlichen Verwaltung ruhenden Staat nicht; ſie hatten in der
Heimath ein öffentliches Recht nur in ſeiner innigſten Verbindung mit
dem Recht auf den Grundbeſitz gekannt; ſie konnten ſich auch jetzt nur
die Herrſchaft als Eigenthum am Grund und Boden denken. Das übrige,
die Selbſtverwaltung der Grundbeſitzer, verſtand ſich von ſelbſt. Daraus
ging die Geſtalt des innern Lebens hervor, welche wir als das Mittel-
alter bezeichnen. Ihr Princip iſt das beinahe völlige Verſchwinden der
Staatsverwaltung, und das ausſchließliche Recht des freien Grundbeſitzes
zur Selbſtverwaltung auf eigenem Grund und Boden, und zwar nach
dem Falle der Karolingiſchen Dynaſtie für alle Gebiete der Verwal-
tung, Finanzen, Rechtspflege und Inneres, ſo weit davon die Rede
ſein konnte. Da nun aber namentlich in den eroberten Ländern dieſer
Grund und Boden an die einzelnen Krieger vertheilt war, ſo entſtand
ein Verhältniß, deſſen Grundlage der Satz war, daß nur derjenige
Grund und Boden ein vollkommen freier ſei, der nicht von einem andern
Einzelnen, ſondern nur vom Landesherrn dem Beſitzer verliehen war.
Grundſätzlich ſchloß das Alle, die auf verliehenem Grund und Boden
ſaßen, von der alten Theilnahme an der Verwaltung aus, die ja auf
dem urſprünglich freien Beſitz beruhte. Dieſer Grundſatz verhielt ſich
zunächſt ganz gleichgültig gegen die volle perſönliche Freiheit der Beſitzer;
er konnte vollſtändig perſönlich frei, und doch unfähig ſein, an der

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[447/0471] derſelben iſt keine Rede; Selbſtverwaltung iſt mithin eben ſo wenig vorhanden, als Gemeindeweſen. Die zweite Geſtalt iſt die des germa- niſchen Dorfes und der Dorfſchaft mit ihrem an die Geſchlechter vertheilten freien Grundbeſitz. Wir haben den Charakter derſelben bereits oben bezeichnet, und das was in ihm als Verwaltung gelten mag, aufgeſtellt. Der Rhein und die Donau ſcheiden dieſe beiden großen Grund- formen auf dem Continent bis zur Völkerwanderung. Die Vernichtung des römiſchen Reiches wirft ſie durch einander. In die Municipien kommen germaniſche Elemente hinein, in die Dörfer ſowohl der germa- niſchen Länder als der neueroberten Länder wurden die romaniſchen Elemente aufgenommen. Das alte Weſen und Recht beider war damit gebrochen; das alte beſtand nicht mehr, das neue war noch nicht erſchienen; von einer Gemeinde konnte noch keine Rede ſein. Die Geſtalt und Ordnung, welche dieſe neue Bildung annahm, beſtimmte ſich zuerſt natürlich nach der allgemeinen Stellung jener beiden großen Elemente. Die Germanen waren als Sieger die Herren; die Romanen hatten nur den Herrn gewechſelt. Eine unmittelbare Verſchmelzung fand nicht ſtatt. Das Recht der römiſchen Herrſchaft war auf die Sieger übergegangen; aber ſie verſtanden den römiſchen, auf der rein amtlichen Verwaltung ruhenden Staat nicht; ſie hatten in der Heimath ein öffentliches Recht nur in ſeiner innigſten Verbindung mit dem Recht auf den Grundbeſitz gekannt; ſie konnten ſich auch jetzt nur die Herrſchaft als Eigenthum am Grund und Boden denken. Das übrige, die Selbſtverwaltung der Grundbeſitzer, verſtand ſich von ſelbſt. Daraus ging die Geſtalt des innern Lebens hervor, welche wir als das Mittel- alter bezeichnen. Ihr Princip iſt das beinahe völlige Verſchwinden der Staatsverwaltung, und das ausſchließliche Recht des freien Grundbeſitzes zur Selbſtverwaltung auf eigenem Grund und Boden, und zwar nach dem Falle der Karolingiſchen Dynaſtie für alle Gebiete der Verwal- tung, Finanzen, Rechtspflege und Inneres, ſo weit davon die Rede ſein konnte. Da nun aber namentlich in den eroberten Ländern dieſer Grund und Boden an die einzelnen Krieger vertheilt war, ſo entſtand ein Verhältniß, deſſen Grundlage der Satz war, daß nur derjenige Grund und Boden ein vollkommen freier ſei, der nicht von einem andern Einzelnen, ſondern nur vom Landesherrn dem Beſitzer verliehen war. Grundſätzlich ſchloß das Alle, die auf verliehenem Grund und Boden ſaßen, von der alten Theilnahme an der Verwaltung aus, die ja auf dem urſprünglich freien Beſitz beruhte. Dieſer Grundſatz verhielt ſich zunächſt ganz gleichgültig gegen die volle perſönliche Freiheit der Beſitzer; er konnte vollſtändig perſönlich frei, und doch unfähig ſein, an der

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/471>, abgerufen am 29.04.2024.