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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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weder im physischen noch im psychischen Leben. Er wird körperlich wie
geistig fortgerissen, gleichsam überdeckt von der quantitativen Macht der
Gesammtheit; seine Einzelkraft wird verschwindend klein, wenn sie der
letzteren gegenüber steht, und alles, was eben durch die Gemeinschaft
ihn physisch oder geistig fördern könnte, verkehrt sich in sein Gegentheil
und wirkt vernichtend.

Soll daher die allererste Gestalt des persönlichen Lebens das phy-
sische und das psychische Dasein des Menschen, das seinerseits ohne
diese Gemeinschaft gar nicht gedacht werden kann, innerhalb derselben zur
selbständigen individuellen Entwicklung gelangen, so muß die Gemein-
schaft als solche in ihrem Verhältniß zum Individuum und seinem
Leben eine Ordnung empfangen, welche die Bedingungen der indivi-
duellen Entwicklung durch diese Berührung mit dem Individuum in so
weit
enthält, als die individuelle Kraft sich diese Bedingungen nicht
verschaffen kann durch eigene Thätigkeit. Der Organismus, welcher
diese Ordnungen erzeugt, ist der Staat. Die Thätigkeit, durch welche
er sie erzeugt, ist die Verwaltung. Und die Gesammtheit der verwal-
tenden Thätigkeiten des Staates daher, welche diejenigen Ordnungen
des physischen und psychischen Lebens der menschlichen Gemeinschaft her-
stellt, die als Bedingungen der individuellen Entwicklung erscheinen und
durch eigene Kraft des Individuums nicht erreicht werden können, bilden
die Verwaltung des persönlichen Lebens.

Es ist ganz naturgemäß, daß dieser Begriff zunächst ein sehr unbe-
stimmter ist, und daß er an sich nur als eine Forderung erscheint.
Denn theils ist im Individuum selbst, theils im Leben der Gemeinschaft
die Bewegung und Entwicklung eine große; theils wechseln auch die
Auffassungen über das Nothwendige und Nützliche. Das was wir die
Verwaltung des persönlichen Lebens nennen, ist daher zu verschiedenen
Zeiten und bei verschiedenen Völkern selbst sehr verschieden. Allein, in
dem selbstbedingten Wesen der Persönlichkeit gegründet, behält es den-
noch stets seine organischen Grundlagen, die sich gleich bleiben, und
die Entwicklung jener Verwaltung beruht daher nicht darauf, daß sie
zu verschiedenen Zeiten absolut verschieden sei, sondern darauf, daß ihre
absoluten Momente zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Form und
in verschiedenem Maße ihrer Ausbildung vorhanden sind. Form und
Maß aber sind wieder nicht zufällig verschieden, sondern sind der Aus-
druck zweier anderen Faktoren, welche schon hier die Gestaltung der
verwaltenden Thätigkeit beherrschen. Die Form und der Inhalt der
letzteren wird vorwiegend von der gesellschaftlichen Ordnung, das
Maß von der Dichtigkeit der Bevölkerung abhangen. Bei ver-
schiedener gesellschaftlicher Ordnung und bei verschiedener Dichtigkeit der

weder im phyſiſchen noch im pſychiſchen Leben. Er wird körperlich wie
geiſtig fortgeriſſen, gleichſam überdeckt von der quantitativen Macht der
Geſammtheit; ſeine Einzelkraft wird verſchwindend klein, wenn ſie der
letzteren gegenüber ſteht, und alles, was eben durch die Gemeinſchaft
ihn phyſiſch oder geiſtig fördern könnte, verkehrt ſich in ſein Gegentheil
und wirkt vernichtend.

Soll daher die allererſte Geſtalt des perſönlichen Lebens das phy-
ſiſche und das pſychiſche Daſein des Menſchen, das ſeinerſeits ohne
dieſe Gemeinſchaft gar nicht gedacht werden kann, innerhalb derſelben zur
ſelbſtändigen individuellen Entwicklung gelangen, ſo muß die Gemein-
ſchaft als ſolche in ihrem Verhältniß zum Individuum und ſeinem
Leben eine Ordnung empfangen, welche die Bedingungen der indivi-
duellen Entwicklung durch dieſe Berührung mit dem Individuum in ſo
weit
enthält, als die individuelle Kraft ſich dieſe Bedingungen nicht
verſchaffen kann durch eigene Thätigkeit. Der Organismus, welcher
dieſe Ordnungen erzeugt, iſt der Staat. Die Thätigkeit, durch welche
er ſie erzeugt, iſt die Verwaltung. Und die Geſammtheit der verwal-
tenden Thätigkeiten des Staates daher, welche diejenigen Ordnungen
des phyſiſchen und pſychiſchen Lebens der menſchlichen Gemeinſchaft her-
ſtellt, die als Bedingungen der individuellen Entwicklung erſcheinen und
durch eigene Kraft des Individuums nicht erreicht werden können, bilden
die Verwaltung des perſönlichen Lebens.

Es iſt ganz naturgemäß, daß dieſer Begriff zunächſt ein ſehr unbe-
ſtimmter iſt, und daß er an ſich nur als eine Forderung erſcheint.
Denn theils iſt im Individuum ſelbſt, theils im Leben der Gemeinſchaft
die Bewegung und Entwicklung eine große; theils wechſeln auch die
Auffaſſungen über das Nothwendige und Nützliche. Das was wir die
Verwaltung des perſönlichen Lebens nennen, iſt daher zu verſchiedenen
Zeiten und bei verſchiedenen Völkern ſelbſt ſehr verſchieden. Allein, in
dem ſelbſtbedingten Weſen der Perſönlichkeit gegründet, behält es den-
noch ſtets ſeine organiſchen Grundlagen, die ſich gleich bleiben, und
die Entwicklung jener Verwaltung beruht daher nicht darauf, daß ſie
zu verſchiedenen Zeiten abſolut verſchieden ſei, ſondern darauf, daß ihre
abſoluten Momente zu verſchiedenen Zeiten in verſchiedener Form und
in verſchiedenem Maße ihrer Ausbildung vorhanden ſind. Form und
Maß aber ſind wieder nicht zufällig verſchieden, ſondern ſind der Aus-
druck zweier anderen Faktoren, welche ſchon hier die Geſtaltung der
verwaltenden Thätigkeit beherrſchen. Die Form und der Inhalt der
letzteren wird vorwiegend von der geſellſchaftlichen Ordnung, das
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[102/0124] weder im phyſiſchen noch im pſychiſchen Leben. Er wird körperlich wie geiſtig fortgeriſſen, gleichſam überdeckt von der quantitativen Macht der Geſammtheit; ſeine Einzelkraft wird verſchwindend klein, wenn ſie der letzteren gegenüber ſteht, und alles, was eben durch die Gemeinſchaft ihn phyſiſch oder geiſtig fördern könnte, verkehrt ſich in ſein Gegentheil und wirkt vernichtend. Soll daher die allererſte Geſtalt des perſönlichen Lebens das phy- ſiſche und das pſychiſche Daſein des Menſchen, das ſeinerſeits ohne dieſe Gemeinſchaft gar nicht gedacht werden kann, innerhalb derſelben zur ſelbſtändigen individuellen Entwicklung gelangen, ſo muß die Gemein- ſchaft als ſolche in ihrem Verhältniß zum Individuum und ſeinem Leben eine Ordnung empfangen, welche die Bedingungen der indivi- duellen Entwicklung durch dieſe Berührung mit dem Individuum in ſo weit enthält, als die individuelle Kraft ſich dieſe Bedingungen nicht verſchaffen kann durch eigene Thätigkeit. Der Organismus, welcher dieſe Ordnungen erzeugt, iſt der Staat. Die Thätigkeit, durch welche er ſie erzeugt, iſt die Verwaltung. Und die Geſammtheit der verwal- tenden Thätigkeiten des Staates daher, welche diejenigen Ordnungen des phyſiſchen und pſychiſchen Lebens der menſchlichen Gemeinſchaft her- ſtellt, die als Bedingungen der individuellen Entwicklung erſcheinen und durch eigene Kraft des Individuums nicht erreicht werden können, bilden die Verwaltung des perſönlichen Lebens. Es iſt ganz naturgemäß, daß dieſer Begriff zunächſt ein ſehr unbe- ſtimmter iſt, und daß er an ſich nur als eine Forderung erſcheint. Denn theils iſt im Individuum ſelbſt, theils im Leben der Gemeinſchaft die Bewegung und Entwicklung eine große; theils wechſeln auch die Auffaſſungen über das Nothwendige und Nützliche. Das was wir die Verwaltung des perſönlichen Lebens nennen, iſt daher zu verſchiedenen Zeiten und bei verſchiedenen Völkern ſelbſt ſehr verſchieden. Allein, in dem ſelbſtbedingten Weſen der Perſönlichkeit gegründet, behält es den- noch ſtets ſeine organiſchen Grundlagen, die ſich gleich bleiben, und die Entwicklung jener Verwaltung beruht daher nicht darauf, daß ſie zu verſchiedenen Zeiten abſolut verſchieden ſei, ſondern darauf, daß ihre abſoluten Momente zu verſchiedenen Zeiten in verſchiedener Form und in verſchiedenem Maße ihrer Ausbildung vorhanden ſind. Form und Maß aber ſind wieder nicht zufällig verſchieden, ſondern ſind der Aus- druck zweier anderen Faktoren, welche ſchon hier die Geſtaltung der verwaltenden Thätigkeit beherrſchen. Die Form und der Inhalt der letzteren wird vorwiegend von der geſellſchaftlichen Ordnung, das Maß von der Dichtigkeit der Bevölkerung abhangen. Bei ver- ſchiedener geſellſchaftlicher Ordnung und bei verſchiedener Dichtigkeit der

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/124>, abgerufen am 27.04.2024.