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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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begnügen, indem wir die Periode der Schätzungen der Volkszahl und
die Periode der eigentlichen Zählungen unterscheiden.

Wir können als die wissenschaftlichen Schätzungen, die allein
Werth haben, nicht die vagen Ansichten Montesquieus (L. XXIII.),
Cumberlands oder Wallaces (Mohl, S. 423 ff.) anerkennen;
selbst der Versuch Humes (Mohl ib.) ist noch keine eigentliche
Schätzung. Wir können unter Schätzung nur diejenige Zahlenbestim-
mung verstehen, die auf Grundlage einer theilweise festgestellten nume-
rischen Volkszahl die Gesammtbevölkerung ohne eigentliche Zählung zu
bestimmen sucht. Diese Schätzungen mußten sich daher an die zwei ein-
zigen Formen anschließen, in denen sich im vorigen Jahrhundert ziffer-
mäßig constatirte Zahlenangaben vorfanden. Das waren die Tabellen
der Versicherungsgeschäfte, und die Standesregister für Gebur-
ten
und Sterbfälle. Der Weg, auf dem man von diesen Grund-
lagen zur eigentlichen Schätzung der Bevölkerung gelangte, lag nahe.
Man fand durch jene Daten zuerst den Satz, daß man die Zahl der
Lebenden für ein ganzes Land finden könne, wenn man die Zahl der
durch die Standesregister festgestellten Geburten mit der Zahl der auf
eine Geburt entfallenden lebenden Personen multiplicire. Das, worauf
es dabei ankam, war ein doppeltes. Erstlich mußte man für gewisse
Orte neben den Standesregistern auch die Zahl der Lebenden haben,
und zweitens mußte man im Stande sein, dieselben Verhältnisse von
dem einzelnen Ort aus, für den sie gefunden waren, auf ein ganzes
Reich anzuwenden. In der That ist dieß auch wirklich der Gang der
historischen Entwicklung gewesen, und man muß sagen, daß die Fest-
stellung des Verhältnisses der Gebornen, Getrauten und Gestor-
benen, und die Formulirung dieses Verhältnisses zu allgemein gül-
tigen Verhältnißzahlen der Anfang aller wissenschaft-
lichen Bevölkerungslehre
und speciell aller Zählungen geworden
ist. Und hier müssen wir einen deutschen Mann an die ihm gebüh-
rende Stelle setzen. Der Erste, der dieß ernstlich und wissenschaftlich
versucht und in großem Maßstabe durchgeführt hat, ist Süßmilch,
und in diesem Sinne nennen wir Süßmilch den wahren Begründer der
Bevölkerungswissenschaft. Neben ihm erscheinen die Halley'schen und
Kerseboom'schen Versuche, die sich zum Theil auf Tontine stützen,
so wie die von Short (Observations on city, towns and country bills
of mortality),
Corbin Morris (Observations on London), Eutro-
pius Philadelphus
(Balance von Dänemark), und unter den Deut-
schen Hanow (Seltenheiten der Natur und Oekonomie), Kundmann
(Museum rariorum naturae et artis) nur als Vorläufer, deren Mit-
theilungen er selber trefflich zu benützen verstanden.

begnügen, indem wir die Periode der Schätzungen der Volkszahl und
die Periode der eigentlichen Zählungen unterſcheiden.

Wir können als die wiſſenſchaftlichen Schätzungen, die allein
Werth haben, nicht die vagen Anſichten Montesquieus (L. XXIII.),
Cumberlands oder Wallaces (Mohl, S. 423 ff.) anerkennen;
ſelbſt der Verſuch Humes (Mohl ib.) iſt noch keine eigentliche
Schätzung. Wir können unter Schätzung nur diejenige Zahlenbeſtim-
mung verſtehen, die auf Grundlage einer theilweiſe feſtgeſtellten nume-
riſchen Volkszahl die Geſammtbevölkerung ohne eigentliche Zählung zu
beſtimmen ſucht. Dieſe Schätzungen mußten ſich daher an die zwei ein-
zigen Formen anſchließen, in denen ſich im vorigen Jahrhundert ziffer-
mäßig conſtatirte Zahlenangaben vorfanden. Das waren die Tabellen
der Verſicherungsgeſchäfte, und die Standesregiſter für Gebur-
ten
und Sterbfälle. Der Weg, auf dem man von dieſen Grund-
lagen zur eigentlichen Schätzung der Bevölkerung gelangte, lag nahe.
Man fand durch jene Daten zuerſt den Satz, daß man die Zahl der
Lebenden für ein ganzes Land finden könne, wenn man die Zahl der
durch die Standesregiſter feſtgeſtellten Geburten mit der Zahl der auf
eine Geburt entfallenden lebenden Perſonen multiplicire. Das, worauf
es dabei ankam, war ein doppeltes. Erſtlich mußte man für gewiſſe
Orte neben den Standesregiſtern auch die Zahl der Lebenden haben,
und zweitens mußte man im Stande ſein, dieſelben Verhältniſſe von
dem einzelnen Ort aus, für den ſie gefunden waren, auf ein ganzes
Reich anzuwenden. In der That iſt dieß auch wirklich der Gang der
hiſtoriſchen Entwicklung geweſen, und man muß ſagen, daß die Feſt-
ſtellung des Verhältniſſes der Gebornen, Getrauten und Geſtor-
benen, und die Formulirung dieſes Verhältniſſes zu allgemein gül-
tigen Verhältnißzahlen der Anfang aller wiſſenſchaft-
lichen Bevölkerungslehre
und ſpeciell aller Zählungen geworden
iſt. Und hier müſſen wir einen deutſchen Mann an die ihm gebüh-
rende Stelle ſetzen. Der Erſte, der dieß ernſtlich und wiſſenſchaftlich
verſucht und in großem Maßſtabe durchgeführt hat, iſt Süßmilch,
und in dieſem Sinne nennen wir Süßmilch den wahren Begründer der
Bevölkerungswiſſenſchaft. Neben ihm erſcheinen die Halley’ſchen und
Kerſeboom’ſchen Verſuche, die ſich zum Theil auf Tontine ſtützen,
ſo wie die von Short (Observations on city, towns and country bills
of mortality),
Corbin Morris (Observations on London), Eutro-
pius Philadelphus
(Balance von Dänemark), und unter den Deut-
ſchen Hanow (Seltenheiten der Natur und Oekonomie), Kundmann
(Museum rariorum naturae et artis) nur als Vorläufer, deren Mit-
theilungen er ſelber trefflich zu benützen verſtanden.

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[218/0240] begnügen, indem wir die Periode der Schätzungen der Volkszahl und die Periode der eigentlichen Zählungen unterſcheiden. Wir können als die wiſſenſchaftlichen Schätzungen, die allein Werth haben, nicht die vagen Anſichten Montesquieus (L. XXIII.), Cumberlands oder Wallaces (Mohl, S. 423 ff.) anerkennen; ſelbſt der Verſuch Humes (Mohl ib.) iſt noch keine eigentliche Schätzung. Wir können unter Schätzung nur diejenige Zahlenbeſtim- mung verſtehen, die auf Grundlage einer theilweiſe feſtgeſtellten nume- riſchen Volkszahl die Geſammtbevölkerung ohne eigentliche Zählung zu beſtimmen ſucht. Dieſe Schätzungen mußten ſich daher an die zwei ein- zigen Formen anſchließen, in denen ſich im vorigen Jahrhundert ziffer- mäßig conſtatirte Zahlenangaben vorfanden. Das waren die Tabellen der Verſicherungsgeſchäfte, und die Standesregiſter für Gebur- ten und Sterbfälle. Der Weg, auf dem man von dieſen Grund- lagen zur eigentlichen Schätzung der Bevölkerung gelangte, lag nahe. Man fand durch jene Daten zuerſt den Satz, daß man die Zahl der Lebenden für ein ganzes Land finden könne, wenn man die Zahl der durch die Standesregiſter feſtgeſtellten Geburten mit der Zahl der auf eine Geburt entfallenden lebenden Perſonen multiplicire. Das, worauf es dabei ankam, war ein doppeltes. Erſtlich mußte man für gewiſſe Orte neben den Standesregiſtern auch die Zahl der Lebenden haben, und zweitens mußte man im Stande ſein, dieſelben Verhältniſſe von dem einzelnen Ort aus, für den ſie gefunden waren, auf ein ganzes Reich anzuwenden. In der That iſt dieß auch wirklich der Gang der hiſtoriſchen Entwicklung geweſen, und man muß ſagen, daß die Feſt- ſtellung des Verhältniſſes der Gebornen, Getrauten und Geſtor- benen, und die Formulirung dieſes Verhältniſſes zu allgemein gül- tigen Verhältnißzahlen der Anfang aller wiſſenſchaft- lichen Bevölkerungslehre und ſpeciell aller Zählungen geworden iſt. Und hier müſſen wir einen deutſchen Mann an die ihm gebüh- rende Stelle ſetzen. Der Erſte, der dieß ernſtlich und wiſſenſchaftlich verſucht und in großem Maßſtabe durchgeführt hat, iſt Süßmilch, und in dieſem Sinne nennen wir Süßmilch den wahren Begründer der Bevölkerungswiſſenſchaft. Neben ihm erſcheinen die Halley’ſchen und Kerſeboom’ſchen Verſuche, die ſich zum Theil auf Tontine ſtützen, ſo wie die von Short (Observations on city, towns and country bills of mortality), Corbin Morris (Observations on London), Eutro- pius Philadelphus (Balance von Dänemark), und unter den Deut- ſchen Hanow (Seltenheiten der Natur und Oekonomie), Kundmann (Museum rariorum naturae et artis) nur als Vorläufer, deren Mit- theilungen er ſelber trefflich zu benützen verſtanden.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/240>, abgerufen am 25.04.2024.