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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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Zählungen. Der praktische Werth, den die Gleichartigkeit des Zählungs-
wesens für alle deutschen Staaten haben mußte, rief daher das Bestreben
hervor, dieselbe zu erzwingen; und hier war es wieder, wo sich die
Verwaltung an die Wissenschaft wenden mußte, um jenen Zweck zu
erlangen. Die letztere nun hatte gerade in dieser Zeit mächtige Fort-
schritte gemacht. Die ganze Bevölkerungslehre, die von der populatio-
nistischen Theorie des vorigen Jahrhunderts in die antipopulationistische
der Malthus'schen Gesichtspunkte gefallen war, empfing durch die geniale
Auffassung Quetelets einen ganz neuen Geist. Während Süßmilch
der Gründer der Physiologie der Bevölkerungsbewegung war, ward
Quetelet der Gründer der gesammten Bevölkerungsphysiologie, die
auf die physiologische Statistik des Einzellebens basirt ist. Die That-
sachen, die er fand, und der Geist, in dem er sie darstellte, wurden
namentlich durch Bernoulli popularisirt, der Quetelet gegenüber die-
selbe Funktion übernahm, die Say für Adam Smith geleistet. Ber-
noulli's Populationistik (1842) bezeichnet den Eintritt des Gedankens,
die Zählungen der Verwaltung, die sich nun einmal an die Theorie
gewendet hatten, dieser Theorie und ihren Forderungen nunmehr auch
gänzlich zu unterwerfen und aus den administrativen volksphysio-
logische
Zählungen zu machen. Dieser Gedanke ward hauptsächlich
durch drei Männer vertreten, deren historische Bedeutung im Zählungs-
wesen dadurch um so größer ist, daß sie eben im Geiste jener Richtung
das frühere Verhältniß so weit thunlich umkehrten, und statt daß die
administrativen Aufgaben bis dahin die Hauptsache gewesen, jetzt die
physiologischen an die Spitze stellten, und die ersteren gleichsam bei
Gelegenheit die letzteren erfüllen ließen. Diese Männer sind Czörnig
in Oesterreich, Legoyt in Frankreich, Engels in Dresden und Berlin.
Sie waren die ersten Vertreter der Idee eines internationalen Congresses
und dürfen als die Begründer des neuen Zählungswesens in Europa
angesehen werden. Es liegt außerhalb unserer Aufgabe, Geschichte und
Bedeutung dieser Congresse hier darzulegen; allein ihr Einfluß auf die
Volkszählungen ist von höchster Bedeutung geworden. Jeder von den
drei Männern hat eine ihm eigene Zählungsgesetzgebung erzeugt, die
uns ein organisches, wohl überlegtes Bild der Zählungen geben, wie
sie eben aus jener Verbindung von Theorie und Verwaltung hervor-
gegangen sind. Als Vorgänger dieser Richtung darf man wohl die Vor-
schriften in Württemberg, gesammelt von Rominger (Systematische
Zusammenstellung sämmtlicher Vorschriften über die verschiedenen Bevöl-
kerungsaufnahmen in Württemberg, 1842), namentlich aber die speciell
unter Quetelet selbst vorgenommenen belgischen Zählungen (Recension
generale de la population
im Bulletin de la Comm. generale de

Zählungen. Der praktiſche Werth, den die Gleichartigkeit des Zählungs-
weſens für alle deutſchen Staaten haben mußte, rief daher das Beſtreben
hervor, dieſelbe zu erzwingen; und hier war es wieder, wo ſich die
Verwaltung an die Wiſſenſchaft wenden mußte, um jenen Zweck zu
erlangen. Die letztere nun hatte gerade in dieſer Zeit mächtige Fort-
ſchritte gemacht. Die ganze Bevölkerungslehre, die von der populatio-
niſtiſchen Theorie des vorigen Jahrhunderts in die antipopulationiſtiſche
der Malthus’ſchen Geſichtspunkte gefallen war, empfing durch die geniale
Auffaſſung Quetelets einen ganz neuen Geiſt. Während Süßmilch
der Gründer der Phyſiologie der Bevölkerungsbewegung war, ward
Quetelet der Gründer der geſammten Bevölkerungsphyſiologie, die
auf die phyſiologiſche Statiſtik des Einzellebens baſirt iſt. Die That-
ſachen, die er fand, und der Geiſt, in dem er ſie darſtellte, wurden
namentlich durch Bernoulli populariſirt, der Quetelet gegenüber die-
ſelbe Funktion übernahm, die Say für Adam Smith geleiſtet. Ber-
noulli’s Populationiſtik (1842) bezeichnet den Eintritt des Gedankens,
die Zählungen der Verwaltung, die ſich nun einmal an die Theorie
gewendet hatten, dieſer Theorie und ihren Forderungen nunmehr auch
gänzlich zu unterwerfen und aus den adminiſtrativen volksphyſio-
logiſche
Zählungen zu machen. Dieſer Gedanke ward hauptſächlich
durch drei Männer vertreten, deren hiſtoriſche Bedeutung im Zählungs-
weſen dadurch um ſo größer iſt, daß ſie eben im Geiſte jener Richtung
das frühere Verhältniß ſo weit thunlich umkehrten, und ſtatt daß die
adminiſtrativen Aufgaben bis dahin die Hauptſache geweſen, jetzt die
phyſiologiſchen an die Spitze ſtellten, und die erſteren gleichſam bei
Gelegenheit die letzteren erfüllen ließen. Dieſe Männer ſind Czörnig
in Oeſterreich, Legoyt in Frankreich, Engels in Dresden und Berlin.
Sie waren die erſten Vertreter der Idee eines internationalen Congreſſes
und dürfen als die Begründer des neuen Zählungsweſens in Europa
angeſehen werden. Es liegt außerhalb unſerer Aufgabe, Geſchichte und
Bedeutung dieſer Congreſſe hier darzulegen; allein ihr Einfluß auf die
Volkszählungen iſt von höchſter Bedeutung geworden. Jeder von den
drei Männern hat eine ihm eigene Zählungsgeſetzgebung erzeugt, die
uns ein organiſches, wohl überlegtes Bild der Zählungen geben, wie
ſie eben aus jener Verbindung von Theorie und Verwaltung hervor-
gegangen ſind. Als Vorgänger dieſer Richtung darf man wohl die Vor-
ſchriften in Württemberg, geſammelt von Rominger (Syſtematiſche
Zuſammenſtellung ſämmtlicher Vorſchriften über die verſchiedenen Bevöl-
kerungsaufnahmen in Württemberg, 1842), namentlich aber die ſpeciell
unter Quetelet ſelbſt vorgenommenen belgiſchen Zählungen (Récension
générale de la population
im Bulletin de la Comm. générale de

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[223/0245] Zählungen. Der praktiſche Werth, den die Gleichartigkeit des Zählungs- weſens für alle deutſchen Staaten haben mußte, rief daher das Beſtreben hervor, dieſelbe zu erzwingen; und hier war es wieder, wo ſich die Verwaltung an die Wiſſenſchaft wenden mußte, um jenen Zweck zu erlangen. Die letztere nun hatte gerade in dieſer Zeit mächtige Fort- ſchritte gemacht. Die ganze Bevölkerungslehre, die von der populatio- niſtiſchen Theorie des vorigen Jahrhunderts in die antipopulationiſtiſche der Malthus’ſchen Geſichtspunkte gefallen war, empfing durch die geniale Auffaſſung Quetelets einen ganz neuen Geiſt. Während Süßmilch der Gründer der Phyſiologie der Bevölkerungsbewegung war, ward Quetelet der Gründer der geſammten Bevölkerungsphyſiologie, die auf die phyſiologiſche Statiſtik des Einzellebens baſirt iſt. Die That- ſachen, die er fand, und der Geiſt, in dem er ſie darſtellte, wurden namentlich durch Bernoulli populariſirt, der Quetelet gegenüber die- ſelbe Funktion übernahm, die Say für Adam Smith geleiſtet. Ber- noulli’s Populationiſtik (1842) bezeichnet den Eintritt des Gedankens, die Zählungen der Verwaltung, die ſich nun einmal an die Theorie gewendet hatten, dieſer Theorie und ihren Forderungen nunmehr auch gänzlich zu unterwerfen und aus den adminiſtrativen volksphyſio- logiſche Zählungen zu machen. Dieſer Gedanke ward hauptſächlich durch drei Männer vertreten, deren hiſtoriſche Bedeutung im Zählungs- weſen dadurch um ſo größer iſt, daß ſie eben im Geiſte jener Richtung das frühere Verhältniß ſo weit thunlich umkehrten, und ſtatt daß die adminiſtrativen Aufgaben bis dahin die Hauptſache geweſen, jetzt die phyſiologiſchen an die Spitze ſtellten, und die erſteren gleichſam bei Gelegenheit die letzteren erfüllen ließen. Dieſe Männer ſind Czörnig in Oeſterreich, Legoyt in Frankreich, Engels in Dresden und Berlin. Sie waren die erſten Vertreter der Idee eines internationalen Congreſſes und dürfen als die Begründer des neuen Zählungsweſens in Europa angeſehen werden. Es liegt außerhalb unſerer Aufgabe, Geſchichte und Bedeutung dieſer Congreſſe hier darzulegen; allein ihr Einfluß auf die Volkszählungen iſt von höchſter Bedeutung geworden. Jeder von den drei Männern hat eine ihm eigene Zählungsgeſetzgebung erzeugt, die uns ein organiſches, wohl überlegtes Bild der Zählungen geben, wie ſie eben aus jener Verbindung von Theorie und Verwaltung hervor- gegangen ſind. Als Vorgänger dieſer Richtung darf man wohl die Vor- ſchriften in Württemberg, geſammelt von Rominger (Syſtematiſche Zuſammenſtellung ſämmtlicher Vorſchriften über die verſchiedenen Bevöl- kerungsaufnahmen in Württemberg, 1842), namentlich aber die ſpeciell unter Quetelet ſelbſt vorgenommenen belgiſchen Zählungen (Récension générale de la population im Bulletin de la Comm. générale de

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/245>, abgerufen am 19.04.2024.