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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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Der Proceß, der nun nach der Völkerwanderung die administrative
Ordnung der Bevölkerung an der Stelle der alten strengen Geschlechter-
ordnung bildet, -- ein Proceß, dessen Roms Geschlechterordnung nicht
bedurfte, weil sie eben auch örtlich ein geschlossenes Ganze blieb -- lag
nun selbst eben in der Natur dessen, was man damals allein von der
Verwaltung forderte. Ihre Aufgabe war einzig und allein die Rechts-
pflege
; das altgermanische Gericht ersetzte den Polizeidienst, wie zum
Theil noch jetzt in England. Früher nun hatte das Volksgericht, aus
dem örtlichen Zusammenleben des Volkes hervorgegangen, das Recht
gekannt, welches es zur Vollziehung bringen sollte. Jetzt waren neue
Verhältnisse hinzugekommen und alte zerstört. Es mußten daher die
Stämme ihr Recht objektiv in Gesetzen zusammenfassen, und man wird
uns verstehen, wenn wir in diesem Sinne sagen, daß somit die alten
Leges Barbarorum die eigentliche und einzige Verwaltungsgesetz-
gebung der Völkerwanderung
geworden seien. In der That
haben sie das mit den neuesten Codificationen gemein, daß sie zugleich
das gesammte bürgerliche Verwaltungsrecht und Polizeirecht enthielten.
So wie sie entstanden waren, schloß sich an sie der Begriff der Zu-
ständigkeit. Diese Zuständigkeit, jenseits des Rheins nicht mehr wie
diesseits desselben örtlich nachweisbar, mußte jetzt auf der Abstam-
mung
beruhen. Die Abstammung war es somit, welche das Recht,
dem eigenen Volksrecht und Volksgericht zuständig zu sein, begründete.
Sie ward die Grundlage der administrativen Ordnung der
Bevölkerung
in einer Zeit, in der die Verwaltung nur in dem Recht-
sprechen nach dem Volksrechte beruhte. Die Zuständigkeit des Einzelnen
empfängt jetzt schon einen specifischen Namen; sie heißt; "lege sua vi-
vere; vivere lege Saxonum, Francorum, etc."
Der Einzelne nahm
diese seine persönliche Zuständigkeit mit sich: sie gilt noch ganz für
seinen Besitz zugleich
. Sie erschöpft daher alles, was damals von
der Verwaltung gefordert wurde. Sie hat zwar, da die Einzelnen nach
allen Richtungen sich zerstreuen, die Competenzen faktisch unendlich durch-
einander geworfen, aber das Princip derselben ist noch immer klar und
einfach. Wer einem Stamme angehört, muß dem gesetzlichen Recht desselben
folgen; nur das Stammesgericht ist competent, nur dem Stammesgericht
ist er zuständig. Eine örtliche Competenz, im Gemeindebürgerrecht, ein
Heimathsrecht gibt es noch nicht, so wenig als in der ältesten Ge-
schlechterordnung. Sie sind erst durch spätere Momente entstanden,
welche wir gleich andeuten werden.

Wohl aber tritt neben dies noch immer einfache Princip bereits
ein zweites auf. Das entsteht durch die gar keinem Geschlecht Ange-
hörigen, die unterworfenen und nicht, wie bei den Burgundern und

Der Proceß, der nun nach der Völkerwanderung die adminiſtrative
Ordnung der Bevölkerung an der Stelle der alten ſtrengen Geſchlechter-
ordnung bildet, — ein Proceß, deſſen Roms Geſchlechterordnung nicht
bedurfte, weil ſie eben auch örtlich ein geſchloſſenes Ganze blieb — lag
nun ſelbſt eben in der Natur deſſen, was man damals allein von der
Verwaltung forderte. Ihre Aufgabe war einzig und allein die Rechts-
pflege
; das altgermaniſche Gericht erſetzte den Polizeidienſt, wie zum
Theil noch jetzt in England. Früher nun hatte das Volksgericht, aus
dem örtlichen Zuſammenleben des Volkes hervorgegangen, das Recht
gekannt, welches es zur Vollziehung bringen ſollte. Jetzt waren neue
Verhältniſſe hinzugekommen und alte zerſtört. Es mußten daher die
Stämme ihr Recht objektiv in Geſetzen zuſammenfaſſen, und man wird
uns verſtehen, wenn wir in dieſem Sinne ſagen, daß ſomit die alten
Leges Barbarorum die eigentliche und einzige Verwaltungsgeſetz-
gebung der Völkerwanderung
geworden ſeien. In der That
haben ſie das mit den neueſten Codificationen gemein, daß ſie zugleich
das geſammte bürgerliche Verwaltungsrecht und Polizeirecht enthielten.
So wie ſie entſtanden waren, ſchloß ſich an ſie der Begriff der Zu-
ſtändigkeit. Dieſe Zuſtändigkeit, jenſeits des Rheins nicht mehr wie
dieſſeits deſſelben örtlich nachweisbar, mußte jetzt auf der Abſtam-
mung
beruhen. Die Abſtammung war es ſomit, welche das Recht,
dem eigenen Volksrecht und Volksgericht zuſtändig zu ſein, begründete.
Sie ward die Grundlage der adminiſtrativen Ordnung der
Bevölkerung
in einer Zeit, in der die Verwaltung nur in dem Recht-
ſprechen nach dem Volksrechte beruhte. Die Zuſtändigkeit des Einzelnen
empfängt jetzt ſchon einen ſpecifiſchen Namen; ſie heißt; „lege sua vi-
vere; vivere lege Saxonum, Francorum, etc.“
Der Einzelne nahm
dieſe ſeine perſönliche Zuſtändigkeit mit ſich: ſie gilt noch ganz für
ſeinen Beſitz zugleich
. Sie erſchöpft daher alles, was damals von
der Verwaltung gefordert wurde. Sie hat zwar, da die Einzelnen nach
allen Richtungen ſich zerſtreuen, die Competenzen faktiſch unendlich durch-
einander geworfen, aber das Princip derſelben iſt noch immer klar und
einfach. Wer einem Stamme angehört, muß dem geſetzlichen Recht deſſelben
folgen; nur das Stammesgericht iſt competent, nur dem Stammesgericht
iſt er zuſtändig. Eine örtliche Competenz, im Gemeindebürgerrecht, ein
Heimathsrecht gibt es noch nicht, ſo wenig als in der älteſten Ge-
ſchlechterordnung. Sie ſind erſt durch ſpätere Momente entſtanden,
welche wir gleich andeuten werden.

Wohl aber tritt neben dies noch immer einfache Princip bereits
ein zweites auf. Das entſteht durch die gar keinem Geſchlecht Ange-
hörigen, die unterworfenen und nicht, wie bei den Burgundern und

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[311/0333] Der Proceß, der nun nach der Völkerwanderung die adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung an der Stelle der alten ſtrengen Geſchlechter- ordnung bildet, — ein Proceß, deſſen Roms Geſchlechterordnung nicht bedurfte, weil ſie eben auch örtlich ein geſchloſſenes Ganze blieb — lag nun ſelbſt eben in der Natur deſſen, was man damals allein von der Verwaltung forderte. Ihre Aufgabe war einzig und allein die Rechts- pflege; das altgermaniſche Gericht erſetzte den Polizeidienſt, wie zum Theil noch jetzt in England. Früher nun hatte das Volksgericht, aus dem örtlichen Zuſammenleben des Volkes hervorgegangen, das Recht gekannt, welches es zur Vollziehung bringen ſollte. Jetzt waren neue Verhältniſſe hinzugekommen und alte zerſtört. Es mußten daher die Stämme ihr Recht objektiv in Geſetzen zuſammenfaſſen, und man wird uns verſtehen, wenn wir in dieſem Sinne ſagen, daß ſomit die alten Leges Barbarorum die eigentliche und einzige Verwaltungsgeſetz- gebung der Völkerwanderung geworden ſeien. In der That haben ſie das mit den neueſten Codificationen gemein, daß ſie zugleich das geſammte bürgerliche Verwaltungsrecht und Polizeirecht enthielten. So wie ſie entſtanden waren, ſchloß ſich an ſie der Begriff der Zu- ſtändigkeit. Dieſe Zuſtändigkeit, jenſeits des Rheins nicht mehr wie dieſſeits deſſelben örtlich nachweisbar, mußte jetzt auf der Abſtam- mung beruhen. Die Abſtammung war es ſomit, welche das Recht, dem eigenen Volksrecht und Volksgericht zuſtändig zu ſein, begründete. Sie ward die Grundlage der adminiſtrativen Ordnung der Bevölkerung in einer Zeit, in der die Verwaltung nur in dem Recht- ſprechen nach dem Volksrechte beruhte. Die Zuſtändigkeit des Einzelnen empfängt jetzt ſchon einen ſpecifiſchen Namen; ſie heißt; „lege sua vi- vere; vivere lege Saxonum, Francorum, etc.“ Der Einzelne nahm dieſe ſeine perſönliche Zuſtändigkeit mit ſich: ſie gilt noch ganz für ſeinen Beſitz zugleich. Sie erſchöpft daher alles, was damals von der Verwaltung gefordert wurde. Sie hat zwar, da die Einzelnen nach allen Richtungen ſich zerſtreuen, die Competenzen faktiſch unendlich durch- einander geworfen, aber das Princip derſelben iſt noch immer klar und einfach. Wer einem Stamme angehört, muß dem geſetzlichen Recht deſſelben folgen; nur das Stammesgericht iſt competent, nur dem Stammesgericht iſt er zuſtändig. Eine örtliche Competenz, im Gemeindebürgerrecht, ein Heimathsrecht gibt es noch nicht, ſo wenig als in der älteſten Ge- ſchlechterordnung. Sie ſind erſt durch ſpätere Momente entſtanden, welche wir gleich andeuten werden. Wohl aber tritt neben dies noch immer einfache Princip bereits ein zweites auf. Das entſteht durch die gar keinem Geſchlecht Ange- hörigen, die unterworfenen und nicht, wie bei den Burgundern und

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/333>, abgerufen am 29.04.2024.