Verfassung als eigentliche Staatswissenschaft betrachtet, und die ganze Verwaltungslehre fast ganz ausgeschlossen.
4) Der Rechtsstaat und sein Verhältniß zur Verwaltungslehre.
Das nun ist Wesen und Richtung des Uebergangs in die Staats- wissenschaft zu der Epoche, die wir als die des Rechtsstaates bezeichnen. Auch dieser Begriff des Rechtsstaates ist ein ursprünglich deutscher, und kann nur aus den historischen Elementen der obigen Entwicklung ganz verstanden werden. Der Grundgedanke desselben ist der, daß die geltende Ordnung des staatlichen Lebens, und also auch die der Verwaltung, nur nach dem Rechte, das durch den organisirten Staatswillen gesetzt ist, bestimmt werden kann. Die Voraussetzungen desselben aber sind bei näherer Betrachtung doppelt, und daher die doppelte Bedeutung, welche jenes Wort hat. Zuerst soll als Staatswille nur derjenige betrachtet werden, der durch das gesetzlich anerkannte Organ desselben bestimmt ist. Die Lehre von den Grundsätzen aber, nach denen eben dieses Organ sich in freier Weise bildet, ist die Verfassungslehre. Es ist hier nicht der Ort, die Entwicklung der Ideen zu verfolgen, welche an Wort und Umfang der "Verfassung" mitgearbeitet haben. Wir setzen sie und ihre Geschichte als bekannt voraus. Zweitens aber erzeugte eben jenes be- ständige Eingreifen der bisherigen obrigkeitlichen Gewalt den Grundsatz, daß zwischen dem freien Individuum und dem Staate eine feste, auch von der Staatsgewalt unantastbare Grenze bestehe, deren Unverletz- lichkeit eine der großen Voraussetzungen aller bürgerlichen Freiheit sei, und daß der Staat als Träger und Pfleger der Rechtsidee eben vor allem diese Grenze zu wahren habe. In der Heilighaltung dieser Grenze, dieser Unverletzlichkeit des "freien" Individuums liege das eigentliche Wesen des "Rechtsstaats." Es ist klar, daß dieser Gedanke die natür- liche, negative Consequenz des bisherigen Verhaltens der "Obrigkeiten" und namentlich der aus der alten Rechtsphilosophie hervorgegangenen Willkür derselben gegenüber dem Einzelnen war. Es war das Ganze kein neues Princip; allein es war der juristische Ausdruck einer in neuer und frischer Kraft auftretenden Idee, der Idee des selbständigen Staats- bürgerthums. Es enthält an sich zwar gar kein Element für die Auf- gaben der innern Verwaltung als solche, wohl aber lag in ihm ein mächtiger Keim für die Organisirung ihrer praktischen Thätigkeit; und dieser war es, der ihm zunächst die Anerkennung in den neuen Bewegungen sicherte.
Es ist aber nothwendig, sich diese Verhältnisse als Ganzes zu denken.
Verfaſſung als eigentliche Staatswiſſenſchaft betrachtet, und die ganze Verwaltungslehre faſt ganz ausgeſchloſſen.
4) Der Rechtsſtaat und ſein Verhältniß zur Verwaltungslehre.
Das nun iſt Weſen und Richtung des Uebergangs in die Staats- wiſſenſchaft zu der Epoche, die wir als die des Rechtsſtaates bezeichnen. Auch dieſer Begriff des Rechtsſtaates iſt ein urſprünglich deutſcher, und kann nur aus den hiſtoriſchen Elementen der obigen Entwicklung ganz verſtanden werden. Der Grundgedanke deſſelben iſt der, daß die geltende Ordnung des ſtaatlichen Lebens, und alſo auch die der Verwaltung, nur nach dem Rechte, das durch den organiſirten Staatswillen geſetzt iſt, beſtimmt werden kann. Die Vorausſetzungen deſſelben aber ſind bei näherer Betrachtung doppelt, und daher die doppelte Bedeutung, welche jenes Wort hat. Zuerſt ſoll als Staatswille nur derjenige betrachtet werden, der durch das geſetzlich anerkannte Organ deſſelben beſtimmt iſt. Die Lehre von den Grundſätzen aber, nach denen eben dieſes Organ ſich in freier Weiſe bildet, iſt die Verfaſſungslehre. Es iſt hier nicht der Ort, die Entwicklung der Ideen zu verfolgen, welche an Wort und Umfang der „Verfaſſung“ mitgearbeitet haben. Wir ſetzen ſie und ihre Geſchichte als bekannt voraus. Zweitens aber erzeugte eben jenes be- ſtändige Eingreifen der bisherigen obrigkeitlichen Gewalt den Grundſatz, daß zwiſchen dem freien Individuum und dem Staate eine feſte, auch von der Staatsgewalt unantaſtbare Grenze beſtehe, deren Unverletz- lichkeit eine der großen Vorausſetzungen aller bürgerlichen Freiheit ſei, und daß der Staat als Träger und Pfleger der Rechtsidee eben vor allem dieſe Grenze zu wahren habe. In der Heilighaltung dieſer Grenze, dieſer Unverletzlichkeit des „freien“ Individuums liege das eigentliche Weſen des „Rechtsſtaats.“ Es iſt klar, daß dieſer Gedanke die natür- liche, negative Conſequenz des bisherigen Verhaltens der „Obrigkeiten“ und namentlich der aus der alten Rechtsphiloſophie hervorgegangenen Willkür derſelben gegenüber dem Einzelnen war. Es war das Ganze kein neues Princip; allein es war der juriſtiſche Ausdruck einer in neuer und friſcher Kraft auftretenden Idee, der Idee des ſelbſtändigen Staats- bürgerthums. Es enthält an ſich zwar gar kein Element für die Auf- gaben der innern Verwaltung als ſolche, wohl aber lag in ihm ein mächtiger Keim für die Organiſirung ihrer praktiſchen Thätigkeit; und dieſer war es, der ihm zunächſt die Anerkennung in den neuen Bewegungen ſicherte.
Es iſt aber nothwendig, ſich dieſe Verhältniſſe als Ganzes zu denken.
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Verfaſſung als eigentliche Staatswiſſenſchaft betrachtet, und
die ganze Verwaltungslehre faſt ganz ausgeſchloſſen.
4) Der Rechtsſtaat und ſein Verhältniß zur
Verwaltungslehre.
Das nun iſt Weſen und Richtung des Uebergangs in die Staats-
wiſſenſchaft zu der Epoche, die wir als die des Rechtsſtaates bezeichnen.
Auch dieſer Begriff des Rechtsſtaates iſt ein urſprünglich deutſcher, und
kann nur aus den hiſtoriſchen Elementen der obigen Entwicklung ganz
verſtanden werden. Der Grundgedanke deſſelben iſt der, daß die geltende
Ordnung des ſtaatlichen Lebens, und alſo auch die der Verwaltung,
nur nach dem Rechte, das durch den organiſirten Staatswillen geſetzt
iſt, beſtimmt werden kann. Die Vorausſetzungen deſſelben aber ſind bei
näherer Betrachtung doppelt, und daher die doppelte Bedeutung, welche
jenes Wort hat. Zuerſt ſoll als Staatswille nur derjenige betrachtet
werden, der durch das geſetzlich anerkannte Organ deſſelben beſtimmt
iſt. Die Lehre von den Grundſätzen aber, nach denen eben dieſes Organ
ſich in freier Weiſe bildet, iſt die Verfaſſungslehre. Es iſt hier nicht
der Ort, die Entwicklung der Ideen zu verfolgen, welche an Wort und
Umfang der „Verfaſſung“ mitgearbeitet haben. Wir ſetzen ſie und ihre
Geſchichte als bekannt voraus. Zweitens aber erzeugte eben jenes be-
ſtändige Eingreifen der bisherigen obrigkeitlichen Gewalt den Grundſatz,
daß zwiſchen dem freien Individuum und dem Staate eine feſte, auch
von der Staatsgewalt unantaſtbare Grenze beſtehe, deren Unverletz-
lichkeit eine der großen Vorausſetzungen aller bürgerlichen Freiheit ſei, und
daß der Staat als Träger und Pfleger der Rechtsidee eben vor allem
dieſe Grenze zu wahren habe. In der Heilighaltung dieſer Grenze,
dieſer Unverletzlichkeit des „freien“ Individuums liege das eigentliche
Weſen des „Rechtsſtaats.“ Es iſt klar, daß dieſer Gedanke die natür-
liche, negative Conſequenz des bisherigen Verhaltens der „Obrigkeiten“
und namentlich der aus der alten Rechtsphiloſophie hervorgegangenen
Willkür derſelben gegenüber dem Einzelnen war. Es war das Ganze
kein neues Princip; allein es war der juriſtiſche Ausdruck einer in neuer
und friſcher Kraft auftretenden Idee, der Idee des ſelbſtändigen Staats-
bürgerthums. Es enthält an ſich zwar gar kein Element für die Auf-
gaben der innern Verwaltung als ſolche, wohl aber lag in ihm ein
mächtiger Keim für die Organiſirung ihrer praktiſchen Thätigkeit; und
dieſer war es, der ihm zunächſt die Anerkennung in den neuen
Bewegungen ſicherte.
Es iſt aber nothwendig, ſich dieſe Verhältniſſe als Ganzes zu denken.
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/43>, abgerufen am 05.12.2023.
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