beschränken. Die Aufgabe des Vormundschaftswesens ist es, den ge- gebenen Mangel in der Selbstbestimmung znnächst formell so weit zu ersetzen, als dieß das persönliche und wirthschaftliche Leben noth- wendig erscheinen läßt, dann aber so weit thunlich auch für die Her- stellung und Entwickelung dieser Selbstbestimmung bei der betreffenden Person zu sorgen.
Es gibt daher so viele Grundformen der Vormundschaft, als es Grundformen des Mangels an persönlicher Selbstbestimmung gibt. Dieselben erscheinen in drei großen Classen. Die erste enthält die Min- derjährigkeit, in der die Selbstbestimmung als eine werdende an- genommen wird und der Mangel derselben auf dem Alter beruht. Die zweite enthält die weibliche Vormundschaft, in der das Geschlecht der Grund der unvollkommenen Selbstbestimmung ist. Die dritte end- lich umfaßt alle Fälle, in denen die Vertretung durch zufällige Lebensverhältnisse nothwendig wird. Die erste hat daher ein natür- liches Ende mit dem Eintreten der Mündigkeit, die zweite ist natur- gemäß eine dauernde, die dritte ist je nach ihrer Ursache dauernd oder vorübergehend (absens -- furiosus -- prodigus). Die erste bezieht sich stets auf Person und Vermögen zugleich, die zweite nur im Falle spe- zieller Aufforderung auch auf die Person, die dritte je nach den Um- ständen auf eine oder beide. Eine durchgreifende Scheidung einer bloß auf das Vermögen bezüglichen Vertretung durch die Vormundschaft (cura) von der auch auf die Person bezüglichen (tutela) ist weder denk- bar, noch auch praktisch. Der Unterschied von cura und tutela ist nur als ein historischer anzuerkennen; er ist nur durch die falsche Behand- lung des römischen Rechts in die deutsche Rechtswissenschaft auf- genommen, von den deutschen Gesetzgebungen längst beseitigt, und muß als verwirrend aufgegeben werden. Die Vormundschaft ist vielmehr Ein Ganzes, hat als solches ihre Geschichte, ihr öffentliches Recht und ihren Organismus, und muß in diesem Sinne als organischer Theil des Pflegschaftswesens behandelt werden. Dagegen ist allerdings die Aufgabe der Vormundschaft, das ist Form und Maß, in welcher die Verwaltung den Mangel der Persönlichkeit zu ersetzen oder dieselbe zu vertreten hat, natürlich in den oben angegebenen drei Grundformen sehr verschieden, weil eben das Objekt derselben, der Mangel an der Fähigkeit zur Selbstbestimmung, sehr verschieden ist. Es ist Aufgabe des speziellen Vormundschaftsrechts und seiner Lehre, dieß Verhältniß in den einzelnen Fällen genauer auszuführen. Die für alle geltenden, das allgemeine Vormundschaftswesen bildenden Grundsätze sind aber als Theil der Verwaltungslehre die folgenden.
beſchränken. Die Aufgabe des Vormundſchaftsweſens iſt es, den ge- gebenen Mangel in der Selbſtbeſtimmung znnächſt formell ſo weit zu erſetzen, als dieß das perſönliche und wirthſchaftliche Leben noth- wendig erſcheinen läßt, dann aber ſo weit thunlich auch für die Her- ſtellung und Entwickelung dieſer Selbſtbeſtimmung bei der betreffenden Perſon zu ſorgen.
Es gibt daher ſo viele Grundformen der Vormundſchaft, als es Grundformen des Mangels an perſönlicher Selbſtbeſtimmung gibt. Dieſelben erſcheinen in drei großen Claſſen. Die erſte enthält die Min- derjährigkeit, in der die Selbſtbeſtimmung als eine werdende an- genommen wird und der Mangel derſelben auf dem Alter beruht. Die zweite enthält die weibliche Vormundſchaft, in der das Geſchlecht der Grund der unvollkommenen Selbſtbeſtimmung iſt. Die dritte end- lich umfaßt alle Fälle, in denen die Vertretung durch zufällige Lebensverhältniſſe nothwendig wird. Die erſte hat daher ein natür- liches Ende mit dem Eintreten der Mündigkeit, die zweite iſt natur- gemäß eine dauernde, die dritte iſt je nach ihrer Urſache dauernd oder vorübergehend (absens — furiosus — prodigus). Die erſte bezieht ſich ſtets auf Perſon und Vermögen zugleich, die zweite nur im Falle ſpe- zieller Aufforderung auch auf die Perſon, die dritte je nach den Um- ſtänden auf eine oder beide. Eine durchgreifende Scheidung einer bloß auf das Vermögen bezüglichen Vertretung durch die Vormundſchaft (cura) von der auch auf die Perſon bezüglichen (tutela) iſt weder denk- bar, noch auch praktiſch. Der Unterſchied von cura und tutela iſt nur als ein hiſtoriſcher anzuerkennen; er iſt nur durch die falſche Behand- lung des römiſchen Rechts in die deutſche Rechtswiſſenſchaft auf- genommen, von den deutſchen Geſetzgebungen längſt beſeitigt, und muß als verwirrend aufgegeben werden. Die Vormundſchaft iſt vielmehr Ein Ganzes, hat als ſolches ihre Geſchichte, ihr öffentliches Recht und ihren Organismus, und muß in dieſem Sinne als organiſcher Theil des Pflegſchaftsweſens behandelt werden. Dagegen iſt allerdings die Aufgabe der Vormundſchaft, das iſt Form und Maß, in welcher die Verwaltung den Mangel der Perſönlichkeit zu erſetzen oder dieſelbe zu vertreten hat, natürlich in den oben angegebenen drei Grundformen ſehr verſchieden, weil eben das Objekt derſelben, der Mangel an der Fähigkeit zur Selbſtbeſtimmung, ſehr verſchieden iſt. Es iſt Aufgabe des ſpeziellen Vormundſchaftsrechts und ſeiner Lehre, dieß Verhältniß in den einzelnen Fällen genauer auszuführen. Die für alle geltenden, das allgemeine Vormundſchaftsweſen bildenden Grundſätze ſind aber als Theil der Verwaltungslehre die folgenden.
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beſchränken. Die Aufgabe des Vormundſchaftsweſens iſt es, den ge-
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erſetzen, als dieß das perſönliche und wirthſchaftliche Leben noth-
wendig erſcheinen läßt, dann aber ſo weit thunlich auch für die Her-
ſtellung und Entwickelung dieſer Selbſtbeſtimmung bei der betreffenden
Perſon zu ſorgen.
Es gibt daher ſo viele Grundformen der Vormundſchaft, als
es Grundformen des Mangels an perſönlicher Selbſtbeſtimmung gibt.
Dieſelben erſcheinen in drei großen Claſſen. Die erſte enthält die Min-
derjährigkeit, in der die Selbſtbeſtimmung als eine werdende an-
genommen wird und der Mangel derſelben auf dem Alter beruht.
Die zweite enthält die weibliche Vormundſchaft, in der das Geſchlecht
der Grund der unvollkommenen Selbſtbeſtimmung iſt. Die dritte end-
lich umfaßt alle Fälle, in denen die Vertretung durch zufällige
Lebensverhältniſſe nothwendig wird. Die erſte hat daher ein natür-
liches Ende mit dem Eintreten der Mündigkeit, die zweite iſt natur-
gemäß eine dauernde, die dritte iſt je nach ihrer Urſache dauernd oder
vorübergehend (absens — furiosus — prodigus). Die erſte bezieht ſich
ſtets auf Perſon und Vermögen zugleich, die zweite nur im Falle ſpe-
zieller Aufforderung auch auf die Perſon, die dritte je nach den Um-
ſtänden auf eine oder beide. Eine durchgreifende Scheidung einer bloß
auf das Vermögen bezüglichen Vertretung durch die Vormundſchaft
(cura) von der auch auf die Perſon bezüglichen (tutela) iſt weder denk-
bar, noch auch praktiſch. Der Unterſchied von cura und tutela iſt nur
als ein hiſtoriſcher anzuerkennen; er iſt nur durch die falſche Behand-
lung des römiſchen Rechts in die deutſche Rechtswiſſenſchaft auf-
genommen, von den deutſchen Geſetzgebungen längſt beſeitigt, und muß
als verwirrend aufgegeben werden. Die Vormundſchaft iſt vielmehr
Ein Ganzes, hat als ſolches ihre Geſchichte, ihr öffentliches Recht und
ihren Organismus, und muß in dieſem Sinne als organiſcher Theil
des Pflegſchaftsweſens behandelt werden. Dagegen iſt allerdings die
Aufgabe der Vormundſchaft, das iſt Form und Maß, in welcher die
Verwaltung den Mangel der Perſönlichkeit zu erſetzen oder dieſelbe zu
vertreten hat, natürlich in den oben angegebenen drei Grundformen
ſehr verſchieden, weil eben das Objekt derſelben, der Mangel an der
Fähigkeit zur Selbſtbeſtimmung, ſehr verſchieden iſt. Es iſt Aufgabe
des ſpeziellen Vormundſchaftsrechts und ſeiner Lehre, dieß Verhältniß
in den einzelnen Fällen genauer auszuführen. Die für alle geltenden,
das allgemeine Vormundſchaftsweſen bildenden Grundſätze ſind aber als
Theil der Verwaltungslehre die folgenden.
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre04_1867/204>, abgerufen am 27.07.2024.
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