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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867.

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gehoben, welche sie mit ihrem Princip der staatsbürgerlichen Gleichheit
vereinigen konnte, und daraus das gegenwärtige System gebildet.

Aus dem römischen Recht hat sie zuerst den Grundsatz der
rechtlichen Selbständigkeit der Unmündigen gegenüber dem Vormund,
und mithin der bürgerlichen Haftung für die wirthschaftliche Thätigkeit
desselben entnommen, dann aber den Grundsatz, daß das Vormundschafts-
wesen eine Verwaltungsaufgabe (munus publicum) sei und daher ein
öffentliches Recht der Besetzung, Führung und Haftung der Vormund-
schaft enthalte, das sich auf alle Zustände erstrecke, bei denen die Per-
sönlichkeiten der öffentlichen Vertretung bedürfen.

Aus dem ständisch-germanischen Recht entnimmt sie dann die prin-
cipielle Aufhebung des Unterschiedes von Tutel und Curatel in den all-
gemeinen Begriff der Vormundschaft, und zweitens den großen Gedanken
der Obervormundschaft des Staats, welche die Pflicht enthält, das Vor-
mundschaftswesen im Ganzen durch Gesetze und Verordnungen zu regeln,
und in jedem einzelnen Falle über die wirkliche Führung die Oberauf-
sicht auszuüben.

Die Staatenbildungen, in denen sich jene Gesellschaftsordnung ver-
wirklicht, ihrerseits auf dem Principe der Einheit und Gleichheit aller
Rechtsverhältnisse beruhend, erzeugen demgemäß eine, jene großen leiten-
den Gedanken formulirende Vormundschaftsgesetzgebung, die be-
reits im vorigen Jahrhundert beginnt, und glücklicher Weise versteht,
sich von den Unklarheiten sowohl der rein römischen, als der sogenannten
deutsch-privatrechtlichen Theorie fern zu halten. Sie verschmelzen die-
selben vielmehr zu einem, im Ganzen sehr wohl geordneten, innerlich
einheitlichen System, dessen Charakter im Wesentlichen darauf beruht,
daß die im römischen Recht aufgestellten Aufgaben und Pflichten unter
thätiger Mitwirkung der, einheitlich und amtlich organisirten
obervormundschaftlichen Behörde zur Ausführung gelangen.
Aus nahe liegenden Zweckmäßigkeitsgründen ist die letztere das Ge-
richt
, obgleich es nicht zu läugnen ist, daß dieß, mag man die Sache
nehmen wie man immer will, doch im Grunde ein Widerspruch bleibt.

Dieß ist der Charakter des Vormundschaftswesens unserer Zeit im
Allgemeinen. Im Besondern aber hat nun jedes Land wieder sein
eigenes Recht, und obwohl uns noch jede Vergleichung fehlt, so ist es
doch kein Zweifel, daß der Unterschied wesentlich auf dem Verhältniß
beruht, in welchen eben die Thätigkeit der Verwaltung zu der des
Vormundes steht; dann auch in dem Maße, in welchem die Vormund-
schaft von den übrigen Theilen des Pflegschaftswesens geschieden ist.

Man kann in dieser Beziehung drei Hauptsysteme unterscheiden.

Nach dem österreichischen Systeme hat das Gesetz die Formen

gehoben, welche ſie mit ihrem Princip der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit
vereinigen konnte, und daraus das gegenwärtige Syſtem gebildet.

Aus dem römiſchen Recht hat ſie zuerſt den Grundſatz der
rechtlichen Selbſtändigkeit der Unmündigen gegenüber dem Vormund,
und mithin der bürgerlichen Haftung für die wirthſchaftliche Thätigkeit
deſſelben entnommen, dann aber den Grundſatz, daß das Vormundſchafts-
weſen eine Verwaltungsaufgabe (munus publicum) ſei und daher ein
öffentliches Recht der Beſetzung, Führung und Haftung der Vormund-
ſchaft enthalte, das ſich auf alle Zuſtände erſtrecke, bei denen die Per-
ſönlichkeiten der öffentlichen Vertretung bedürfen.

Aus dem ſtändiſch-germaniſchen Recht entnimmt ſie dann die prin-
cipielle Aufhebung des Unterſchiedes von Tutel und Curatel in den all-
gemeinen Begriff der Vormundſchaft, und zweitens den großen Gedanken
der Obervormundſchaft des Staats, welche die Pflicht enthält, das Vor-
mundſchaftsweſen im Ganzen durch Geſetze und Verordnungen zu regeln,
und in jedem einzelnen Falle über die wirkliche Führung die Oberauf-
ſicht auszuüben.

Die Staatenbildungen, in denen ſich jene Geſellſchaftsordnung ver-
wirklicht, ihrerſeits auf dem Principe der Einheit und Gleichheit aller
Rechtsverhältniſſe beruhend, erzeugen demgemäß eine, jene großen leiten-
den Gedanken formulirende Vormundſchaftsgeſetzgebung, die be-
reits im vorigen Jahrhundert beginnt, und glücklicher Weiſe verſteht,
ſich von den Unklarheiten ſowohl der rein römiſchen, als der ſogenannten
deutſch-privatrechtlichen Theorie fern zu halten. Sie verſchmelzen die-
ſelben vielmehr zu einem, im Ganzen ſehr wohl geordneten, innerlich
einheitlichen Syſtem, deſſen Charakter im Weſentlichen darauf beruht,
daß die im römiſchen Recht aufgeſtellten Aufgaben und Pflichten unter
thätiger Mitwirkung der, einheitlich und amtlich organiſirten
obervormundſchaftlichen Behörde zur Ausführung gelangen.
Aus nahe liegenden Zweckmäßigkeitsgründen iſt die letztere das Ge-
richt
, obgleich es nicht zu läugnen iſt, daß dieß, mag man die Sache
nehmen wie man immer will, doch im Grunde ein Widerſpruch bleibt.

Dieß iſt der Charakter des Vormundſchaftsweſens unſerer Zeit im
Allgemeinen. Im Beſondern aber hat nun jedes Land wieder ſein
eigenes Recht, und obwohl uns noch jede Vergleichung fehlt, ſo iſt es
doch kein Zweifel, daß der Unterſchied weſentlich auf dem Verhältniß
beruht, in welchen eben die Thätigkeit der Verwaltung zu der des
Vormundes ſteht; dann auch in dem Maße, in welchem die Vormund-
ſchaft von den übrigen Theilen des Pflegſchaftsweſens geſchieden iſt.

Man kann in dieſer Beziehung drei Hauptſyſteme unterſcheiden.

Nach dem öſterreichiſchen Syſteme hat das Geſetz die Formen

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[188/0210] gehoben, welche ſie mit ihrem Princip der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit vereinigen konnte, und daraus das gegenwärtige Syſtem gebildet. Aus dem römiſchen Recht hat ſie zuerſt den Grundſatz der rechtlichen Selbſtändigkeit der Unmündigen gegenüber dem Vormund, und mithin der bürgerlichen Haftung für die wirthſchaftliche Thätigkeit deſſelben entnommen, dann aber den Grundſatz, daß das Vormundſchafts- weſen eine Verwaltungsaufgabe (munus publicum) ſei und daher ein öffentliches Recht der Beſetzung, Führung und Haftung der Vormund- ſchaft enthalte, das ſich auf alle Zuſtände erſtrecke, bei denen die Per- ſönlichkeiten der öffentlichen Vertretung bedürfen. Aus dem ſtändiſch-germaniſchen Recht entnimmt ſie dann die prin- cipielle Aufhebung des Unterſchiedes von Tutel und Curatel in den all- gemeinen Begriff der Vormundſchaft, und zweitens den großen Gedanken der Obervormundſchaft des Staats, welche die Pflicht enthält, das Vor- mundſchaftsweſen im Ganzen durch Geſetze und Verordnungen zu regeln, und in jedem einzelnen Falle über die wirkliche Führung die Oberauf- ſicht auszuüben. Die Staatenbildungen, in denen ſich jene Geſellſchaftsordnung ver- wirklicht, ihrerſeits auf dem Principe der Einheit und Gleichheit aller Rechtsverhältniſſe beruhend, erzeugen demgemäß eine, jene großen leiten- den Gedanken formulirende Vormundſchaftsgeſetzgebung, die be- reits im vorigen Jahrhundert beginnt, und glücklicher Weiſe verſteht, ſich von den Unklarheiten ſowohl der rein römiſchen, als der ſogenannten deutſch-privatrechtlichen Theorie fern zu halten. Sie verſchmelzen die- ſelben vielmehr zu einem, im Ganzen ſehr wohl geordneten, innerlich einheitlichen Syſtem, deſſen Charakter im Weſentlichen darauf beruht, daß die im römiſchen Recht aufgeſtellten Aufgaben und Pflichten unter thätiger Mitwirkung der, einheitlich und amtlich organiſirten obervormundſchaftlichen Behörde zur Ausführung gelangen. Aus nahe liegenden Zweckmäßigkeitsgründen iſt die letztere das Ge- richt, obgleich es nicht zu läugnen iſt, daß dieß, mag man die Sache nehmen wie man immer will, doch im Grunde ein Widerſpruch bleibt. Dieß iſt der Charakter des Vormundſchaftsweſens unſerer Zeit im Allgemeinen. Im Beſondern aber hat nun jedes Land wieder ſein eigenes Recht, und obwohl uns noch jede Vergleichung fehlt, ſo iſt es doch kein Zweifel, daß der Unterſchied weſentlich auf dem Verhältniß beruht, in welchen eben die Thätigkeit der Verwaltung zu der des Vormundes ſteht; dann auch in dem Maße, in welchem die Vormund- ſchaft von den übrigen Theilen des Pflegſchaftsweſens geſchieden iſt. Man kann in dieſer Beziehung drei Hauptſyſteme unterſcheiden. Nach dem öſterreichiſchen Syſteme hat das Geſetz die Formen

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre04_1867/210>, abgerufen am 28.04.2024.