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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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Berufsbildungswesen hat daher gleichsam die Aufgabe und den Werth
für Europa, zu zeigen, ob und in wie weit die gesellschaftliche Ord-
nung ohne Zuthun des Staats eine Berufsbildung hervor-
rufen kann
; oder anders ausgedrückt, wie weit die Fähigkeit der
vollkommenen Freiheit in Lehre und Lernen es vermag, die
gesetzliche Ordnung der letzteren zu ersetzen.

Das ist wohl der Gesichtspunkt, von dem aus Englands
Berufsbildungswesen betrachtet werden muß; und es darf nicht vergessen
werden, daß derselbe gerade im obigen Sinn ein hochwichtiger und
sehr berechtigter ist. Denn bei aller Vortrefflichkeit namentlich des
deutschen Bildungswesens, seiner Form wie seinem Inhalt nach, läßt
es sich doch nicht läugnen, daß es vorzugsweise auf amtlichen An-
ordnungen beruht, und daß die freie Selbstbestimmung des Einzelnen
nur noch höchstens in der Wahl der Richtung seiner Bildung, nicht
aber in der Wahl des Inhalts derselben entscheidend einwirkt. Es
läßt sich ferner nicht läugnen, daß Stoff und Ordnung des zu Lernenden
in Deutschland so vortrefflich und so reichhaltig geordnet und geboten
werden, daß die Kenntnisse, welche der junge Mann zu erwerben ge-
zwungen wird, ihm die freie Selbstthätigkeit des eigenen Denkens, das
lebendige und starke Gefühl der geistigen, eigenen Verantwortlichkeit fast
ersetzen können. Unser Berufsbildungswesen macht den Charakter
durch die Kenntnisse überflüssig
. Und die weitere Folge davon,
das Gefühl, daß dem wirklich so ist, äußert sich naturgemäß darin,
daß man beständig dahin trachtet, das Maß und die gute Ordnung
dieser Kenntnisse noch zu vermehren, so daß in der That der
Fortschritt in der Bildung die starke Entwicklung des Charakters immer
mehr überflüssig erscheinen, die Kraft des selbstthätigen Denkens neben
der des wohlorganisirten Gedächtnisses und der prompten Fassungsgabe
für Fremdes immer mehr in den Hintergrund treten läßt. Zwar hat
Deutschland in neuester Zeit das Gegengewicht gegen diese Richtung in
der Idee der Lehr- und Lernfreiheit gefunden; aber sie ist weder zum
vollen Durchbruche gekommen, noch ist man sich recht einig über das
Wesen derselben. Sie ist in der That nur das Erscheinen des englischen
Princips in der deutschen Berufsbildung, und die Frage der Zukunft
wird die sein, wie weit seine Geltung für Deutschland gehen soll.

Zur Beantwortung dieser so hochwichtigen Frage für die ganze
Zukunft des geistigen Lebens in Deutschland genügt es nun nicht, von
der größeren wissenschaftlichen Bildung in Deutschland überhaupt zu
reden; denn es ist die Frage, ob sie, wenn auch in gewissen Gebieten
vorhanden, durchschnittlich wirklich eine größere ist. Man muß vielmehr
dafür einen ganz anderen Standpunkt einnehmen.

Berufsbildungsweſen hat daher gleichſam die Aufgabe und den Werth
für Europa, zu zeigen, ob und in wie weit die geſellſchaftliche Ord-
nung ohne Zuthun des Staats eine Berufsbildung hervor-
rufen kann
; oder anders ausgedrückt, wie weit die Fähigkeit der
vollkommenen Freiheit in Lehre und Lernen es vermag, die
geſetzliche Ordnung der letzteren zu erſetzen.

Das iſt wohl der Geſichtspunkt, von dem aus Englands
Berufsbildungsweſen betrachtet werden muß; und es darf nicht vergeſſen
werden, daß derſelbe gerade im obigen Sinn ein hochwichtiger und
ſehr berechtigter iſt. Denn bei aller Vortrefflichkeit namentlich des
deutſchen Bildungsweſens, ſeiner Form wie ſeinem Inhalt nach, läßt
es ſich doch nicht läugnen, daß es vorzugsweiſe auf amtlichen An-
ordnungen beruht, und daß die freie Selbſtbeſtimmung des Einzelnen
nur noch höchſtens in der Wahl der Richtung ſeiner Bildung, nicht
aber in der Wahl des Inhalts derſelben entſcheidend einwirkt. Es
läßt ſich ferner nicht läugnen, daß Stoff und Ordnung des zu Lernenden
in Deutſchland ſo vortrefflich und ſo reichhaltig geordnet und geboten
werden, daß die Kenntniſſe, welche der junge Mann zu erwerben ge-
zwungen wird, ihm die freie Selbſtthätigkeit des eigenen Denkens, das
lebendige und ſtarke Gefühl der geiſtigen, eigenen Verantwortlichkeit faſt
erſetzen können. Unſer Berufsbildungsweſen macht den Charakter
durch die Kenntniſſe überflüſſig
. Und die weitere Folge davon,
das Gefühl, daß dem wirklich ſo iſt, äußert ſich naturgemäß darin,
daß man beſtändig dahin trachtet, das Maß und die gute Ordnung
dieſer Kenntniſſe noch zu vermehren, ſo daß in der That der
Fortſchritt in der Bildung die ſtarke Entwicklung des Charakters immer
mehr überflüſſig erſcheinen, die Kraft des ſelbſtthätigen Denkens neben
der des wohlorganiſirten Gedächtniſſes und der prompten Faſſungsgabe
für Fremdes immer mehr in den Hintergrund treten läßt. Zwar hat
Deutſchland in neueſter Zeit das Gegengewicht gegen dieſe Richtung in
der Idee der Lehr- und Lernfreiheit gefunden; aber ſie iſt weder zum
vollen Durchbruche gekommen, noch iſt man ſich recht einig über das
Weſen derſelben. Sie iſt in der That nur das Erſcheinen des engliſchen
Princips in der deutſchen Berufsbildung, und die Frage der Zukunft
wird die ſein, wie weit ſeine Geltung für Deutſchland gehen ſoll.

Zur Beantwortung dieſer ſo hochwichtigen Frage für die ganze
Zukunft des geiſtigen Lebens in Deutſchland genügt es nun nicht, von
der größeren wiſſenſchaftlichen Bildung in Deutſchland überhaupt zu
reden; denn es iſt die Frage, ob ſie, wenn auch in gewiſſen Gebieten
vorhanden, durchſchnittlich wirklich eine größere iſt. Man muß vielmehr
dafür einen ganz anderen Standpunkt einnehmen.

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[322/0350] Berufsbildungsweſen hat daher gleichſam die Aufgabe und den Werth für Europa, zu zeigen, ob und in wie weit die geſellſchaftliche Ord- nung ohne Zuthun des Staats eine Berufsbildung hervor- rufen kann; oder anders ausgedrückt, wie weit die Fähigkeit der vollkommenen Freiheit in Lehre und Lernen es vermag, die geſetzliche Ordnung der letzteren zu erſetzen. Das iſt wohl der Geſichtspunkt, von dem aus Englands Berufsbildungsweſen betrachtet werden muß; und es darf nicht vergeſſen werden, daß derſelbe gerade im obigen Sinn ein hochwichtiger und ſehr berechtigter iſt. Denn bei aller Vortrefflichkeit namentlich des deutſchen Bildungsweſens, ſeiner Form wie ſeinem Inhalt nach, läßt es ſich doch nicht läugnen, daß es vorzugsweiſe auf amtlichen An- ordnungen beruht, und daß die freie Selbſtbeſtimmung des Einzelnen nur noch höchſtens in der Wahl der Richtung ſeiner Bildung, nicht aber in der Wahl des Inhalts derſelben entſcheidend einwirkt. Es läßt ſich ferner nicht läugnen, daß Stoff und Ordnung des zu Lernenden in Deutſchland ſo vortrefflich und ſo reichhaltig geordnet und geboten werden, daß die Kenntniſſe, welche der junge Mann zu erwerben ge- zwungen wird, ihm die freie Selbſtthätigkeit des eigenen Denkens, das lebendige und ſtarke Gefühl der geiſtigen, eigenen Verantwortlichkeit faſt erſetzen können. Unſer Berufsbildungsweſen macht den Charakter durch die Kenntniſſe überflüſſig. Und die weitere Folge davon, das Gefühl, daß dem wirklich ſo iſt, äußert ſich naturgemäß darin, daß man beſtändig dahin trachtet, das Maß und die gute Ordnung dieſer Kenntniſſe noch zu vermehren, ſo daß in der That der Fortſchritt in der Bildung die ſtarke Entwicklung des Charakters immer mehr überflüſſig erſcheinen, die Kraft des ſelbſtthätigen Denkens neben der des wohlorganiſirten Gedächtniſſes und der prompten Faſſungsgabe für Fremdes immer mehr in den Hintergrund treten läßt. Zwar hat Deutſchland in neueſter Zeit das Gegengewicht gegen dieſe Richtung in der Idee der Lehr- und Lernfreiheit gefunden; aber ſie iſt weder zum vollen Durchbruche gekommen, noch iſt man ſich recht einig über das Weſen derſelben. Sie iſt in der That nur das Erſcheinen des engliſchen Princips in der deutſchen Berufsbildung, und die Frage der Zukunft wird die ſein, wie weit ſeine Geltung für Deutſchland gehen ſoll. Zur Beantwortung dieſer ſo hochwichtigen Frage für die ganze Zukunft des geiſtigen Lebens in Deutſchland genügt es nun nicht, von der größeren wiſſenſchaftlichen Bildung in Deutſchland überhaupt zu reden; denn es iſt die Frage, ob ſie, wenn auch in gewiſſen Gebieten vorhanden, durchſchnittlich wirklich eine größere iſt. Man muß vielmehr dafür einen ganz anderen Standpunkt einnehmen.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/350>, abgerufen am 28.04.2024.