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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 6. Stuttgart, 1868.

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ist ein Gut der Gemeinschaft; sie schützt dieselbe, indem sie Handlungen
straft, welche sie öffentlich verletzen. Darüber sind alle Zeiten und
Völker im Princip einig. Die Frage ist nur die, ob es eine Gränze
zwischen den bloß zu verhindernden und den zu bestrafenden Handlungen
gibt, und zweitens, wer diese Gränze setzen soll. Und in diesen Punkten
liegt die Geschichte der Sittenpolizei.

Die Sittenpolizei umfaßt die Gesammtheit der Maßregeln, welche
in allen Handlungen der Einzelnen das die öffentliche Sitte verletzende
Element beseitigen. Sie trägt daher, neben ihrer Berechtigung, die
Gefahr in sich, zugleich die Freiheit des Einzelnen von dem Gesichts-
punkt jenes Elementes aus zu beeinträchtigen. Je bestimmter sich daher
die individuelle Freiheit entwickelt, um so mehr tritt das Bedürfniß auf,
die Gränze des Rechts und des Unrechts in der öffentlichen Handlung
des Einzelnen objektiv so fest zu stellen als möglich. Der Gang der
Rechtsbildung dieser Sittenpolizei beruht daher im Großen und Ganzen
zunächst darauf, daß zuerst die Geschlechter und dann in der ständischen
Gesellschaft die Körperschaften diese Polizei der von ihnen geforderten
Sitte selbst ausüben, während mit dem Auftreten der polizeilichen Epoche
die Regierung als verordnende Gewalt einseitig zugleich Gesetzgebung
und Vollziehung in die Hand nimmt. Das Charakteristische in dieser
Epoche ist, daß sich die "öffentliche Sitte" in ihr nicht mehr durch das
sittliche Bewußtsein des Volkes, sondern durch die theoretische Auf-
fassung des Eudämonismus und seiner Wohlfahrtspolizei bestimmt.
Mit diesem Eintreten der Polizeigesetzgebung entsteht das, was man
die zweite Gestalt oder Epoche der Sittenpolizei nennen kann. In ihr
übernimmt die Regierung die Aufgabe der alten Geschlechter und stän-
dischen Körperschaften, und zwar zum Theil in feindlicher Weise gegen
dieselben gerichtet, wie sie überhaupt die Gegnerin jeder Selbstverwal-
tung ist. Jetzt beginnt daher jene Reihe von Verordnungen und Maß-
regeln, in welchen die junge Polizei mit der besten Absicht auf das Tiefste
in das Leben der Völker hineingreift und auf allen Punkten die Sitte
theils durch ihre Verordnungen, theils durch Maßregeln vor dem Verderben
zu bewahren oder das Publikum gegen sie zu schützen sucht. Diese Polizei-
gesetze bilden kein äußerliches Ganze, sondern sind vielfach mit rein sicher-
heits- und gesundheitspolizeilichen Vorschriften verwoben; sie haben auch
sehr wenig genützt und gegenwärtig nur noch antiquarischen Werth. Im
Großen und Ganzen aber bedeuten sie den Proceß, in welchem sie die
Unterordnung der Sitte unter die Herrschaft der Geschlechter und
Stände auflöst, und die freie individuelle Bewegung in Mode, Lebens-
weise und Umgangsformen an die Stelle der genossenschaftlichen Ueber-
wachung tritt. Die polizeiliche Sittenordnung bildet in dieser Bewegung

iſt ein Gut der Gemeinſchaft; ſie ſchützt dieſelbe, indem ſie Handlungen
ſtraft, welche ſie öffentlich verletzen. Darüber ſind alle Zeiten und
Völker im Princip einig. Die Frage iſt nur die, ob es eine Gränze
zwiſchen den bloß zu verhindernden und den zu beſtrafenden Handlungen
gibt, und zweitens, wer dieſe Gränze ſetzen ſoll. Und in dieſen Punkten
liegt die Geſchichte der Sittenpolizei.

Die Sittenpolizei umfaßt die Geſammtheit der Maßregeln, welche
in allen Handlungen der Einzelnen das die öffentliche Sitte verletzende
Element beſeitigen. Sie trägt daher, neben ihrer Berechtigung, die
Gefahr in ſich, zugleich die Freiheit des Einzelnen von dem Geſichts-
punkt jenes Elementes aus zu beeinträchtigen. Je beſtimmter ſich daher
die individuelle Freiheit entwickelt, um ſo mehr tritt das Bedürfniß auf,
die Gränze des Rechts und des Unrechts in der öffentlichen Handlung
des Einzelnen objektiv ſo feſt zu ſtellen als möglich. Der Gang der
Rechtsbildung dieſer Sittenpolizei beruht daher im Großen und Ganzen
zunächſt darauf, daß zuerſt die Geſchlechter und dann in der ſtändiſchen
Geſellſchaft die Körperſchaften dieſe Polizei der von ihnen geforderten
Sitte ſelbſt ausüben, während mit dem Auftreten der polizeilichen Epoche
die Regierung als verordnende Gewalt einſeitig zugleich Geſetzgebung
und Vollziehung in die Hand nimmt. Das Charakteriſtiſche in dieſer
Epoche iſt, daß ſich die „öffentliche Sitte“ in ihr nicht mehr durch das
ſittliche Bewußtſein des Volkes, ſondern durch die theoretiſche Auf-
faſſung des Eudämonismus und ſeiner Wohlfahrtspolizei beſtimmt.
Mit dieſem Eintreten der Polizeigeſetzgebung entſteht das, was man
die zweite Geſtalt oder Epoche der Sittenpolizei nennen kann. In ihr
übernimmt die Regierung die Aufgabe der alten Geſchlechter und ſtän-
diſchen Körperſchaften, und zwar zum Theil in feindlicher Weiſe gegen
dieſelben gerichtet, wie ſie überhaupt die Gegnerin jeder Selbſtverwal-
tung iſt. Jetzt beginnt daher jene Reihe von Verordnungen und Maß-
regeln, in welchen die junge Polizei mit der beſten Abſicht auf das Tiefſte
in das Leben der Völker hineingreift und auf allen Punkten die Sitte
theils durch ihre Verordnungen, theils durch Maßregeln vor dem Verderben
zu bewahren oder das Publikum gegen ſie zu ſchützen ſucht. Dieſe Polizei-
geſetze bilden kein äußerliches Ganze, ſondern ſind vielfach mit rein ſicher-
heits- und geſundheitspolizeilichen Vorſchriften verwoben; ſie haben auch
ſehr wenig genützt und gegenwärtig nur noch antiquariſchen Werth. Im
Großen und Ganzen aber bedeuten ſie den Proceß, in welchem ſie die
Unterordnung der Sitte unter die Herrſchaft der Geſchlechter und
Stände auflöst, und die freie individuelle Bewegung in Mode, Lebens-
weiſe und Umgangsformen an die Stelle der genoſſenſchaftlichen Ueber-
wachung tritt. Die polizeiliche Sittenordnung bildet in dieſer Bewegung

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 6. Stuttgart, 1868, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre06_1868/28>, abgerufen am 28.04.2024.