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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 6. Stuttgart, 1868.

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Diese Antwort liegt ihrerseits in dem Begriff und Wesen des
Strafrechts und der Polizei selbst. Das Strafrecht der Unsitte be-
ginnt da, wo eine bestimmte einzelne, vom Gesetz mit Strafe belegte
Handlung der Unsitte vorliegt, und zwar gilt das vom eigentlichen
sowohl als vom Polizeistrafrecht. So lange dieß nicht der Fall ist,
kann kein strafrechtliches Verfahren eintreten. Das Gebiet der Sitten-
polizei dagegen beginnt da, wo eine Handlung oder ein Zustand vor-
liegen, welche die Gefährdung der öffentlichen Sitte enthalten, ohne
ein Recht zu verletzen, und ohne vom Strafrecht verboten zu sein. Das
Recht der Polizei geht in diesen Fällen allerdings dahin, solche Zustände
und Handlungen zu verbieten, eventuell sie mit der ihr zustehenden
Zwangsgewalt auch zu beseitigen, niemals aber dahin, dieselben zu
bestrafen. Die Aufgabe des Strafrechts in jeder Gestalt geht dabei
dahin, der Polizei so wenig als möglich der eigenen Willkür zu über-
lassen; allein ganz kann er alle Fälle niemals in sich aufnehmen.
Indeß hat dieser Proceß, der seinerseits einen Theil der Entwicklung
des staatsbürgerlichen Rechts bildet, das reine Polizeirecht schon jetzt auf
seine äußersten Gränzen zurückgeführt, und es ist daher jetzt nur noch
wenig für dasselbe übrig geblieben. Nur die alten Kategorien erhalten
sich; ihren Inhalt aber muß jetzt wesentlich die Strafrechtslehre aus-
füllen.


Jede der drei angeführten Hauptgestaltungen der öffentlichen Sitten-
polizei hat ihre Form der Gesetzgebung in Deutschland, das eben deß-
halb wohl allein eine eigentliche Geschichte derselben hat, während Eng-
land und Frankreich, und mit dem letzteren alle Länder der Codification
nach französischem Recht eine ganz andere Stellung einnehmen.

Was zunächst England betrifft, so gilt hier formell allerdings der
Grundsatz, daß niemand anders als durch Urtheil und Gericht nach vorher-
gegangenem Verfahren vor dem ordentlichen Richter bestraft werden,
und daß keine Polizei ohne gesetzliche Grundlage gegen den Einzelnen
verfahren dürfe. In der Wirklichkeit aber wird diese Vorschrift zu einem
Sittenpolizeirecht sehr leicht umgestaltet, indem die Polizei die Einzelnen
ohne Weiteres in Haft nimmt (s. unten Polizeirecht) und die Richter gerade
im Gebiete der Sittenpolizei ziemlich rücksichtslos verfahren, speziell wo es
sich um Unzucht handelt. Bei dem Mangel einer bestimmten Gesetz-
gebung ist es wohl schwer, etwas weiteres positiv zu sagen, als was
wir im Polizeirecht aufgeführt haben. Die speciellen Gesetze führen
wir unten an; einen schlagenden Beweis aber für die englischen Auf-
fassungen und Zustände bietet wohl die Stockprügelordnung vom
Jahre 1861 (25 Vict. c. 18), wornach die Zahl der Stockprügel,

Dieſe Antwort liegt ihrerſeits in dem Begriff und Weſen des
Strafrechts und der Polizei ſelbſt. Das Strafrecht der Unſitte be-
ginnt da, wo eine beſtimmte einzelne, vom Geſetz mit Strafe belegte
Handlung der Unſitte vorliegt, und zwar gilt das vom eigentlichen
ſowohl als vom Polizeiſtrafrecht. So lange dieß nicht der Fall iſt,
kann kein ſtrafrechtliches Verfahren eintreten. Das Gebiet der Sitten-
polizei dagegen beginnt da, wo eine Handlung oder ein Zuſtand vor-
liegen, welche die Gefährdung der öffentlichen Sitte enthalten, ohne
ein Recht zu verletzen, und ohne vom Strafrecht verboten zu ſein. Das
Recht der Polizei geht in dieſen Fällen allerdings dahin, ſolche Zuſtände
und Handlungen zu verbieten, eventuell ſie mit der ihr zuſtehenden
Zwangsgewalt auch zu beſeitigen, niemals aber dahin, dieſelben zu
beſtrafen. Die Aufgabe des Strafrechts in jeder Geſtalt geht dabei
dahin, der Polizei ſo wenig als möglich der eigenen Willkür zu über-
laſſen; allein ganz kann er alle Fälle niemals in ſich aufnehmen.
Indeß hat dieſer Proceß, der ſeinerſeits einen Theil der Entwicklung
des ſtaatsbürgerlichen Rechts bildet, das reine Polizeirecht ſchon jetzt auf
ſeine äußerſten Gränzen zurückgeführt, und es iſt daher jetzt nur noch
wenig für daſſelbe übrig geblieben. Nur die alten Kategorien erhalten
ſich; ihren Inhalt aber muß jetzt weſentlich die Strafrechtslehre aus-
füllen.


Jede der drei angeführten Hauptgeſtaltungen der öffentlichen Sitten-
polizei hat ihre Form der Geſetzgebung in Deutſchland, das eben deß-
halb wohl allein eine eigentliche Geſchichte derſelben hat, während Eng-
land und Frankreich, und mit dem letzteren alle Länder der Codification
nach franzöſiſchem Recht eine ganz andere Stellung einnehmen.

Was zunächſt England betrifft, ſo gilt hier formell allerdings der
Grundſatz, daß niemand anders als durch Urtheil und Gericht nach vorher-
gegangenem Verfahren vor dem ordentlichen Richter beſtraft werden,
und daß keine Polizei ohne geſetzliche Grundlage gegen den Einzelnen
verfahren dürfe. In der Wirklichkeit aber wird dieſe Vorſchrift zu einem
Sittenpolizeirecht ſehr leicht umgeſtaltet, indem die Polizei die Einzelnen
ohne Weiteres in Haft nimmt (ſ. unten Polizeirecht) und die Richter gerade
im Gebiete der Sittenpolizei ziemlich rückſichtslos verfahren, ſpeziell wo es
ſich um Unzucht handelt. Bei dem Mangel einer beſtimmten Geſetz-
gebung iſt es wohl ſchwer, etwas weiteres poſitiv zu ſagen, als was
wir im Polizeirecht aufgeführt haben. Die ſpeciellen Geſetze führen
wir unten an; einen ſchlagenden Beweis aber für die engliſchen Auf-
faſſungen und Zuſtände bietet wohl die Stockprügelordnung vom
Jahre 1861 (25 Vict. c. 18), wornach die Zahl der Stockprügel,

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[14/0030] Dieſe Antwort liegt ihrerſeits in dem Begriff und Weſen des Strafrechts und der Polizei ſelbſt. Das Strafrecht der Unſitte be- ginnt da, wo eine beſtimmte einzelne, vom Geſetz mit Strafe belegte Handlung der Unſitte vorliegt, und zwar gilt das vom eigentlichen ſowohl als vom Polizeiſtrafrecht. So lange dieß nicht der Fall iſt, kann kein ſtrafrechtliches Verfahren eintreten. Das Gebiet der Sitten- polizei dagegen beginnt da, wo eine Handlung oder ein Zuſtand vor- liegen, welche die Gefährdung der öffentlichen Sitte enthalten, ohne ein Recht zu verletzen, und ohne vom Strafrecht verboten zu ſein. Das Recht der Polizei geht in dieſen Fällen allerdings dahin, ſolche Zuſtände und Handlungen zu verbieten, eventuell ſie mit der ihr zuſtehenden Zwangsgewalt auch zu beſeitigen, niemals aber dahin, dieſelben zu beſtrafen. Die Aufgabe des Strafrechts in jeder Geſtalt geht dabei dahin, der Polizei ſo wenig als möglich der eigenen Willkür zu über- laſſen; allein ganz kann er alle Fälle niemals in ſich aufnehmen. Indeß hat dieſer Proceß, der ſeinerſeits einen Theil der Entwicklung des ſtaatsbürgerlichen Rechts bildet, das reine Polizeirecht ſchon jetzt auf ſeine äußerſten Gränzen zurückgeführt, und es iſt daher jetzt nur noch wenig für daſſelbe übrig geblieben. Nur die alten Kategorien erhalten ſich; ihren Inhalt aber muß jetzt weſentlich die Strafrechtslehre aus- füllen. Jede der drei angeführten Hauptgeſtaltungen der öffentlichen Sitten- polizei hat ihre Form der Geſetzgebung in Deutſchland, das eben deß- halb wohl allein eine eigentliche Geſchichte derſelben hat, während Eng- land und Frankreich, und mit dem letzteren alle Länder der Codification nach franzöſiſchem Recht eine ganz andere Stellung einnehmen. Was zunächſt England betrifft, ſo gilt hier formell allerdings der Grundſatz, daß niemand anders als durch Urtheil und Gericht nach vorher- gegangenem Verfahren vor dem ordentlichen Richter beſtraft werden, und daß keine Polizei ohne geſetzliche Grundlage gegen den Einzelnen verfahren dürfe. In der Wirklichkeit aber wird dieſe Vorſchrift zu einem Sittenpolizeirecht ſehr leicht umgeſtaltet, indem die Polizei die Einzelnen ohne Weiteres in Haft nimmt (ſ. unten Polizeirecht) und die Richter gerade im Gebiete der Sittenpolizei ziemlich rückſichtslos verfahren, ſpeziell wo es ſich um Unzucht handelt. Bei dem Mangel einer beſtimmten Geſetz- gebung iſt es wohl ſchwer, etwas weiteres poſitiv zu ſagen, als was wir im Polizeirecht aufgeführt haben. Die ſpeciellen Geſetze führen wir unten an; einen ſchlagenden Beweis aber für die engliſchen Auf- faſſungen und Zuſtände bietet wohl die Stockprügelordnung vom Jahre 1861 (25 Vict. c. 18), wornach die Zahl der Stockprügel,

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 6. Stuttgart, 1868, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre06_1868/30>, abgerufen am 27.04.2024.