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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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deutsche Rechtsgeschichte zum Theil durch die französische verstehen lernt.
Diese Sätze gelten auch für das, was wir als die Grundentlastung oben
bezeichnet haben; zum Theil sogar in noch entschiedenerer Weise als für
die übrigen Rechtsinstitute. Wir müssen uns demnach darüber klar sein,
was eigentlich die Aufgabe einer besondern Darstellung des franzö-
sischen Grundentlastungswesens sein könne.

Wir finden nun diese nicht in den einzelnen Principien und An-
wendungen der Grundentlastung in Frankreich, sondern in der Be-
stimmung des allgemeinen Charakters derselben.

Während nämlich die Grundentlastung in England sich langsam
und gleichsam selbstthätig wirkend schon seit dem dreizehnten Jahrhun-
dert vollzieht, und zwar bis auf die letzten Jahrzehnte so gut als
gänzlich ohne alle Mitwirkung der Regierung, tritt sie in Frankreich
unvermittelt, plötzlich und rücksichtslos in der Revolution auf, bildet
den eigentlich materiellen Kern derselben, wird ausschließlich durch die
revolutionäre Staatsgewalt vollzogen, und schließt daher auch eben so
schnell und definitiv ab, wie sie begonnen. Während sie in England
hauptsächlich aus dem Interesse der Betheiligten hervorgeht, beruht sie
in Frankreich vielmehr auf dem abstrakten Princip der zum Siege ge-
langenden Bewegung der bisher unfreien Klasse. Während sie daher
in England kaum recht zur Erscheinung und zum Bewußtsein der wis-
senschaftlichen Welt gelangt, weil sie unmerklich und vielfach von den
alten Namen und Rechtsverhältnissen verdeckt und versteckt, sich ziemlich
in aller Stille vollzieht, verschwindet sie wieder in Frankreich deßhalb,
weil sie nur als einfache, natürliche, einer besondern Berechtigung gar
nicht bedürfende Consequenz der großen, das ganze Leben des Volkes
umfassenden geistigen und gesellschaftlichen Bewegung auftritt. Daher
ist es beiden Ländern gemeinsam, daß sie selber den Begriff der Grund-
entlastung theoretisch gar nicht kennen, obwohl die Sache bei beiden
so gut vorhanden war und ist wie in Deutschland. Ja es ist nicht ein-
mal möglich, das deutsche Wort "Entlastung" ins Englische oder Fran-
zösische zu übersetzen. Und daher auch die somit leicht erklärliche That-
sache, daß auch die deutsche Grundentlastungsliteratur sich fast eben so
wenig mit Frankreich als mit England beschäftigt. Das Bewußtsein,
daß gerade auf diesem Gebiete eine Thatsache von der höchsten Wich-
tigkeit für die Zukunft sich in ganz Europa zugleich vollzieht, ist
daher nicht zum Durchbruche gelangt; die Gewißheit, daß die Gleich-
artigkeit des europäischen Lebens weit größer und tiefer ist, als seine
Verschiedenheit, wird nicht gewonnen. Das ist gerade hier ein wahrer
Mangel, wo doch am Ende der entscheidende Punkt der ganzen innern
Entwicklung, die Consolidirung der staatsbürgerlichen Gesellschafts-

deutſche Rechtsgeſchichte zum Theil durch die franzöſiſche verſtehen lernt.
Dieſe Sätze gelten auch für das, was wir als die Grundentlaſtung oben
bezeichnet haben; zum Theil ſogar in noch entſchiedenerer Weiſe als für
die übrigen Rechtsinſtitute. Wir müſſen uns demnach darüber klar ſein,
was eigentlich die Aufgabe einer beſondern Darſtellung des franzö-
ſiſchen Grundentlaſtungsweſens ſein könne.

Wir finden nun dieſe nicht in den einzelnen Principien und An-
wendungen der Grundentlaſtung in Frankreich, ſondern in der Be-
ſtimmung des allgemeinen Charakters derſelben.

Während nämlich die Grundentlaſtung in England ſich langſam
und gleichſam ſelbſtthätig wirkend ſchon ſeit dem dreizehnten Jahrhun-
dert vollzieht, und zwar bis auf die letzten Jahrzehnte ſo gut als
gänzlich ohne alle Mitwirkung der Regierung, tritt ſie in Frankreich
unvermittelt, plötzlich und rückſichtslos in der Revolution auf, bildet
den eigentlich materiellen Kern derſelben, wird ausſchließlich durch die
revolutionäre Staatsgewalt vollzogen, und ſchließt daher auch eben ſo
ſchnell und definitiv ab, wie ſie begonnen. Während ſie in England
hauptſächlich aus dem Intereſſe der Betheiligten hervorgeht, beruht ſie
in Frankreich vielmehr auf dem abſtrakten Princip der zum Siege ge-
langenden Bewegung der bisher unfreien Klaſſe. Während ſie daher
in England kaum recht zur Erſcheinung und zum Bewußtſein der wiſ-
ſenſchaftlichen Welt gelangt, weil ſie unmerklich und vielfach von den
alten Namen und Rechtsverhältniſſen verdeckt und verſteckt, ſich ziemlich
in aller Stille vollzieht, verſchwindet ſie wieder in Frankreich deßhalb,
weil ſie nur als einfache, natürliche, einer beſondern Berechtigung gar
nicht bedürfende Conſequenz der großen, das ganze Leben des Volkes
umfaſſenden geiſtigen und geſellſchaftlichen Bewegung auftritt. Daher
iſt es beiden Ländern gemeinſam, daß ſie ſelber den Begriff der Grund-
entlaſtung theoretiſch gar nicht kennen, obwohl die Sache bei beiden
ſo gut vorhanden war und iſt wie in Deutſchland. Ja es iſt nicht ein-
mal möglich, das deutſche Wort „Entlaſtung“ ins Engliſche oder Fran-
zöſiſche zu überſetzen. Und daher auch die ſomit leicht erklärliche That-
ſache, daß auch die deutſche Grundentlaſtungsliteratur ſich faſt eben ſo
wenig mit Frankreich als mit England beſchäftigt. Das Bewußtſein,
daß gerade auf dieſem Gebiete eine Thatſache von der höchſten Wich-
tigkeit für die Zukunft ſich in ganz Europa zugleich vollzieht, iſt
daher nicht zum Durchbruche gelangt; die Gewißheit, daß die Gleich-
artigkeit des europäiſchen Lebens weit größer und tiefer iſt, als ſeine
Verſchiedenheit, wird nicht gewonnen. Das iſt gerade hier ein wahrer
Mangel, wo doch am Ende der entſcheidende Punkt der ganzen innern
Entwicklung, die Conſolidirung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts-

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[141/0159] deutſche Rechtsgeſchichte zum Theil durch die franzöſiſche verſtehen lernt. Dieſe Sätze gelten auch für das, was wir als die Grundentlaſtung oben bezeichnet haben; zum Theil ſogar in noch entſchiedenerer Weiſe als für die übrigen Rechtsinſtitute. Wir müſſen uns demnach darüber klar ſein, was eigentlich die Aufgabe einer beſondern Darſtellung des franzö- ſiſchen Grundentlaſtungsweſens ſein könne. Wir finden nun dieſe nicht in den einzelnen Principien und An- wendungen der Grundentlaſtung in Frankreich, ſondern in der Be- ſtimmung des allgemeinen Charakters derſelben. Während nämlich die Grundentlaſtung in England ſich langſam und gleichſam ſelbſtthätig wirkend ſchon ſeit dem dreizehnten Jahrhun- dert vollzieht, und zwar bis auf die letzten Jahrzehnte ſo gut als gänzlich ohne alle Mitwirkung der Regierung, tritt ſie in Frankreich unvermittelt, plötzlich und rückſichtslos in der Revolution auf, bildet den eigentlich materiellen Kern derſelben, wird ausſchließlich durch die revolutionäre Staatsgewalt vollzogen, und ſchließt daher auch eben ſo ſchnell und definitiv ab, wie ſie begonnen. Während ſie in England hauptſächlich aus dem Intereſſe der Betheiligten hervorgeht, beruht ſie in Frankreich vielmehr auf dem abſtrakten Princip der zum Siege ge- langenden Bewegung der bisher unfreien Klaſſe. Während ſie daher in England kaum recht zur Erſcheinung und zum Bewußtſein der wiſ- ſenſchaftlichen Welt gelangt, weil ſie unmerklich und vielfach von den alten Namen und Rechtsverhältniſſen verdeckt und verſteckt, ſich ziemlich in aller Stille vollzieht, verſchwindet ſie wieder in Frankreich deßhalb, weil ſie nur als einfache, natürliche, einer beſondern Berechtigung gar nicht bedürfende Conſequenz der großen, das ganze Leben des Volkes umfaſſenden geiſtigen und geſellſchaftlichen Bewegung auftritt. Daher iſt es beiden Ländern gemeinſam, daß ſie ſelber den Begriff der Grund- entlaſtung theoretiſch gar nicht kennen, obwohl die Sache bei beiden ſo gut vorhanden war und iſt wie in Deutſchland. Ja es iſt nicht ein- mal möglich, das deutſche Wort „Entlaſtung“ ins Engliſche oder Fran- zöſiſche zu überſetzen. Und daher auch die ſomit leicht erklärliche That- ſache, daß auch die deutſche Grundentlaſtungsliteratur ſich faſt eben ſo wenig mit Frankreich als mit England beſchäftigt. Das Bewußtſein, daß gerade auf dieſem Gebiete eine Thatſache von der höchſten Wich- tigkeit für die Zukunft ſich in ganz Europa zugleich vollzieht, iſt daher nicht zum Durchbruche gelangt; die Gewißheit, daß die Gleich- artigkeit des europäiſchen Lebens weit größer und tiefer iſt, als ſeine Verſchiedenheit, wird nicht gewonnen. Das iſt gerade hier ein wahrer Mangel, wo doch am Ende der entſcheidende Punkt der ganzen innern Entwicklung, die Conſolidirung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts-

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/159>, abgerufen am 28.04.2024.