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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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Einzelrechts durch die gesellschaftliche Entwicklung die rechtliche und
wirthschaftliche Selbständigkeit des Einzelnen so weit aufrecht hält,
als dieß überhaupt für die Erreichung der gesellschaftlichen Forderung
möglich ist. Aus dem Streben, das Gebiet dieser Beschränkung des
Einzelrechts auf ihr äußerstes Maß zurückzuführen, und dadurch das
zweite große Element der staatsbürgerlichen Gesellschaft, den freien
Einzelnen, zu erhalten, ergibt sich nun das, was wir das System
des Enteignungsrechts nennen. Die Grundlage dieses Systems ist
demnach der Satz, daß der Staat nie dasjenige Gut nehmen darf,
welches er sich selbst hätte erwerben können, und daß er, wo er das
Gut nimmt, nie mehr nehmen darf, als für seine Aufgabe unabweis-
bar nothwendig ist. Das erste schließt die Enteignung unbedingt aus,
so lange ein freier Erwerb auch des nöthigen Gutes wirthschaftlich
möglich ist; das zweite erzeugt die Nothwendigkeit, das zu enteignende
Gut erstlich genau zu bestimmen, und zweitens in demselben nur das
zu nehmen, was der Staat sich nicht selbst ohne den Eigner geben
konnte; das aber ist die Substanz des Gutes, der Stoff desselben,
während das zweite organische Element des Gutes, der Werth des-
selben, dem Eigner als Entschädigung zurückgegeben werden muß. Aus
diesen Momenten entsteht nun das Recht der Enteignung.

Das Recht der Enteignung enthält und bezeichnet demgemäß die
Gränze des individuellen Eigenthums, welche die Enteignung bei der
Aufhebung desselben aufrecht zu halten hat. Das Recht der Enteignung
kommt daher weder im Begriffe des Privatrechts, noch in dem der
Volkswirthschaft zur Erscheinung, sondern es scheint vielmehr als die,
aus dem obigen Wesen der Enteignung fließende Gränze für diejenige
Thätigkeit des Staats, welche das individuelle Eigenthum wirklich ent-
zieht; und für diesen Begriff des Enteignungsrechts ist es mithin
vor der Hand ganz gleichgültig, ob dieß Recht ein gesetzliches, verord-
nungsmäßiges, oder bloß ein Recht an sich ist. Denn es wird, da das
Wesen der Sache selbst immer dasselbe ist, auch stets immer das gleiche
Recht sein; und dieß Recht ist mithin das Recht der Wissenschaft.

Allein eine wesentlich verschiedene Frage ist nun allerdings die,
ob und wie weit sich dieß Recht an sich durch das Zusammenwirken
von Gesetzgebung, Verwaltung und Wissenschaft bereits zu einem
geltenden Recht ausgebildet hat
. Die Darlegung dieses Pro-
cesses des Werdens eines geltenden Rechts aus dem Recht an sich bildet
dann die Rechtsgeschichte des Enteignungsrechts.


Einzelrechts durch die geſellſchaftliche Entwicklung die rechtliche und
wirthſchaftliche Selbſtändigkeit des Einzelnen ſo weit aufrecht hält,
als dieß überhaupt für die Erreichung der geſellſchaftlichen Forderung
möglich iſt. Aus dem Streben, das Gebiet dieſer Beſchränkung des
Einzelrechts auf ihr äußerſtes Maß zurückzuführen, und dadurch das
zweite große Element der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, den freien
Einzelnen, zu erhalten, ergibt ſich nun das, was wir das Syſtem
des Enteignungsrechts nennen. Die Grundlage dieſes Syſtems iſt
demnach der Satz, daß der Staat nie dasjenige Gut nehmen darf,
welches er ſich ſelbſt hätte erwerben können, und daß er, wo er das
Gut nimmt, nie mehr nehmen darf, als für ſeine Aufgabe unabweis-
bar nothwendig iſt. Das erſte ſchließt die Enteignung unbedingt aus,
ſo lange ein freier Erwerb auch des nöthigen Gutes wirthſchaftlich
möglich iſt; das zweite erzeugt die Nothwendigkeit, das zu enteignende
Gut erſtlich genau zu beſtimmen, und zweitens in demſelben nur das
zu nehmen, was der Staat ſich nicht ſelbſt ohne den Eigner geben
konnte; das aber iſt die Subſtanz des Gutes, der Stoff deſſelben,
während das zweite organiſche Element des Gutes, der Werth des-
ſelben, dem Eigner als Entſchädigung zurückgegeben werden muß. Aus
dieſen Momenten entſteht nun das Recht der Enteignung.

Das Recht der Enteignung enthält und bezeichnet demgemäß die
Gränze des individuellen Eigenthums, welche die Enteignung bei der
Aufhebung deſſelben aufrecht zu halten hat. Das Recht der Enteignung
kommt daher weder im Begriffe des Privatrechts, noch in dem der
Volkswirthſchaft zur Erſcheinung, ſondern es ſcheint vielmehr als die,
aus dem obigen Weſen der Enteignung fließende Gränze für diejenige
Thätigkeit des Staats, welche das individuelle Eigenthum wirklich ent-
zieht; und für dieſen Begriff des Enteignungsrechts iſt es mithin
vor der Hand ganz gleichgültig, ob dieß Recht ein geſetzliches, verord-
nungsmäßiges, oder bloß ein Recht an ſich iſt. Denn es wird, da das
Weſen der Sache ſelbſt immer daſſelbe iſt, auch ſtets immer das gleiche
Recht ſein; und dieß Recht iſt mithin das Recht der Wiſſenſchaft.

Allein eine weſentlich verſchiedene Frage iſt nun allerdings die,
ob und wie weit ſich dieß Recht an ſich durch das Zuſammenwirken
von Geſetzgebung, Verwaltung und Wiſſenſchaft bereits zu einem
geltenden Recht ausgebildet hat
. Die Darlegung dieſes Pro-
ceſſes des Werdens eines geltenden Rechts aus dem Recht an ſich bildet
dann die Rechtsgeſchichte des Enteignungsrechts.


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[300/0318] Einzelrechts durch die geſellſchaftliche Entwicklung die rechtliche und wirthſchaftliche Selbſtändigkeit des Einzelnen ſo weit aufrecht hält, als dieß überhaupt für die Erreichung der geſellſchaftlichen Forderung möglich iſt. Aus dem Streben, das Gebiet dieſer Beſchränkung des Einzelrechts auf ihr äußerſtes Maß zurückzuführen, und dadurch das zweite große Element der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, den freien Einzelnen, zu erhalten, ergibt ſich nun das, was wir das Syſtem des Enteignungsrechts nennen. Die Grundlage dieſes Syſtems iſt demnach der Satz, daß der Staat nie dasjenige Gut nehmen darf, welches er ſich ſelbſt hätte erwerben können, und daß er, wo er das Gut nimmt, nie mehr nehmen darf, als für ſeine Aufgabe unabweis- bar nothwendig iſt. Das erſte ſchließt die Enteignung unbedingt aus, ſo lange ein freier Erwerb auch des nöthigen Gutes wirthſchaftlich möglich iſt; das zweite erzeugt die Nothwendigkeit, das zu enteignende Gut erſtlich genau zu beſtimmen, und zweitens in demſelben nur das zu nehmen, was der Staat ſich nicht ſelbſt ohne den Eigner geben konnte; das aber iſt die Subſtanz des Gutes, der Stoff deſſelben, während das zweite organiſche Element des Gutes, der Werth des- ſelben, dem Eigner als Entſchädigung zurückgegeben werden muß. Aus dieſen Momenten entſteht nun das Recht der Enteignung. Das Recht der Enteignung enthält und bezeichnet demgemäß die Gränze des individuellen Eigenthums, welche die Enteignung bei der Aufhebung deſſelben aufrecht zu halten hat. Das Recht der Enteignung kommt daher weder im Begriffe des Privatrechts, noch in dem der Volkswirthſchaft zur Erſcheinung, ſondern es ſcheint vielmehr als die, aus dem obigen Weſen der Enteignung fließende Gränze für diejenige Thätigkeit des Staats, welche das individuelle Eigenthum wirklich ent- zieht; und für dieſen Begriff des Enteignungsrechts iſt es mithin vor der Hand ganz gleichgültig, ob dieß Recht ein geſetzliches, verord- nungsmäßiges, oder bloß ein Recht an ſich iſt. Denn es wird, da das Weſen der Sache ſelbſt immer daſſelbe iſt, auch ſtets immer das gleiche Recht ſein; und dieß Recht iſt mithin das Recht der Wiſſenſchaft. Allein eine weſentlich verſchiedene Frage iſt nun allerdings die, ob und wie weit ſich dieß Recht an ſich durch das Zuſammenwirken von Geſetzgebung, Verwaltung und Wiſſenſchaft bereits zu einem geltenden Recht ausgebildet hat. Die Darlegung dieſes Pro- ceſſes des Werdens eines geltenden Rechts aus dem Recht an ſich bildet dann die Rechtsgeſchichte des Enteignungsrechts.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/318>, abgerufen am 29.04.2024.