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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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als weil es notwendig gewesen wäre, die Zelte auf. Die Vorräte verringerten
sich bedenklich: wir hatten noch zwei Alqueires (a 50 Ltr) Bohnen und die letzten
zwei Alqueires Farinha -- sie allein giebt Kraft, während Bohnen und Fleisch
nur den Magen beschweren, meinten unsere brasilischen Soldaten -- waren bereits
angebrochen, der Speck war aufgezehrt, nicht ohne nächtliche Beihilfe unserer
Jagdhunde.

Am 6. September Cerrado, Cerrado! Die Avantgarde säbelte wie besessen,
um der Truppe einen Weg zu öffnen. Es war Pikade schlagen und nicht mehr
markieren. Gegen 11 Uhr kamen wir endlich einmal an eine hochgelegene
Lichtung und gewannen einen Ausblick nach Norden. Diavo, Cerrado, so weit
das Auge reichte, Cerrado für Leguas hinaus! Wir sahen einander an und ver-
standen uns ohne Worte: rechts schwenkt marsch zum Fluss hinab und weiter
vorwärts auf dem Flusse selbst! In einer halben Stunde erreichten wir das Ufer
und sahen, dass wir eine vortreffliche Ecke gefunden hatten: ein frischer 8 m
breiter Bach floss hier ein, schlankstämmige Bäumchen für die Hängematten waren
hinreichend vorhanden, und ein breites Stück Grasland schob sich waldfrei bis an
diesen Lagerplatz vor. Die arme Truppe, sie erschien erst um 4 Uhr Nach-
mittags: acht Esel hatten sich seitwärts in die Büsche geschlagen; einer war nach
langem Suchen an einem Bach liegend gefunden worden, einer steckte noch im
Walde und sie selbst, die fromme unbepackte Madrinha hatte dem Zuge ent-
schlossen den Rücken gewandt und das Weite gesucht.

"Viva a independencia!" riefen unsere Brasilier am Tage ihres Festes, den
7. September, und Independencia wurde der Name unseres Standquartiers: 13°
34',3 südl. Breite, 51° 58',5 westl. Länge von Greenwich. Es wurde beschlossen,
dass Antonio ein Rindenkanu mache, wovon wir uns freilich jetzt am Ende der
Trockenzeit, da die Rinde des Jatoba-Baumes dann spröde ist und zerspringt,
nicht gerade das Beste versprechen durften, und dass ich mit ihm und Carlos
mich einschiffe, um zu sehen, ob wir zu Indianern und, wenn das Glück uns hold
war, zu Bakairi-Indianern gelangen würden. Günstigen Falls, rechneten wir, in
etwa drei Tagen; Vogel schätzte die Höhe der Independencia, die 148 m über
Cuyaba, 367 m über dem Meeresspiegel betrug, auf ungefähr 50 m über der
Kulisehumündung, es standen jedenfalls noch starke Stromschnellen oder Wasserfälle
in Aussicht. Mittlerweile sollten die andern Herren rekognoszieren, ob nicht auch
flussabwärts ein günstiger Lagerplatz zu finden sei, damit wir die Maultierstation
womöglich weiter vorschieben könnten. Erst im Fall eines Misserfolgs unserer
Kanufahrt kamen die Indianer, die wir nach dem Feuer im Osten vermuteten
und die sicher keine Bakairi waren, in Betracht. Unser Fluss war noch bedenk-
lich schmal. Von rechts her musste jedenfalls ein stärkerer Arm hinzutreten, da
die Einmündung unseres Kulisehu von 1884 in "Schingu-Koblenz" einem statt-
lichen Strom entsprach: gehörten die Indianer der östlichen Queimada zu seinem
Gebiet, so durften wir hoffen, von den Bakairi am besten bei ihnen eingeführt
zu werden.


als weil es notwendig gewesen wäre, die Zelte auf. Die Vorräte verringerten
sich bedenklich: wir hatten noch zwei Alqueires (à 50 Ltr) Bohnen und die letzten
zwei Alqueires Farinha — sie allein giebt Kraft, während Bohnen und Fleisch
nur den Magen beschweren, meinten unsere brasilischen Soldaten — waren bereits
angebrochen, der Speck war aufgezehrt, nicht ohne nächtliche Beihilfe unserer
Jagdhunde.

Am 6. September Cerrado, Cerrado! Die Avantgarde säbelte wie besessen,
um der Truppe einen Weg zu öffnen. Es war Pikade schlagen und nicht mehr
markieren. Gegen 11 Uhr kamen wir endlich einmal an eine hochgelegene
Lichtung und gewannen einen Ausblick nach Norden. Diavo, Cerrado, so weit
das Auge reichte, Cerrado für Leguas hinaus! Wir sahen einander an und ver-
standen uns ohne Worte: rechts schwenkt marsch zum Fluss hinab und weiter
vorwärts auf dem Flusse selbst! In einer halben Stunde erreichten wir das Ufer
und sahen, dass wir eine vortreffliche Ecke gefunden hatten: ein frischer 8 m
breiter Bach floss hier ein, schlankstämmige Bäumchen für die Hängematten waren
hinreichend vorhanden, und ein breites Stück Grasland schob sich waldfrei bis an
diesen Lagerplatz vor. Die arme Truppe, sie erschien erst um 4 Uhr Nach-
mittags: acht Esel hatten sich seitwärts in die Büsche geschlagen; einer war nach
langem Suchen an einem Bach liegend gefunden worden, einer steckte noch im
Walde und sie selbst, die fromme unbepackte Madrinha hatte dem Zuge ent-
schlossen den Rücken gewandt und das Weite gesucht.

»Viva a independencia!« riefen unsere Brasilier am Tage ihres Festes, den
7. September, und Independencia wurde der Name unseres Standquartiers: 13°
34',3 südl. Breite, 51° 58',5 westl. Länge von Greenwich. Es wurde beschlossen,
dass Antonio ein Rindenkanu mache, wovon wir uns freilich jetzt am Ende der
Trockenzeit, da die Rinde des Jatobá-Baumes dann spröde ist und zerspringt,
nicht gerade das Beste versprechen durften, und dass ich mit ihm und Carlos
mich einschiffe, um zu sehen, ob wir zu Indianern und, wenn das Glück uns hold
war, zu Bakaïrí-Indianern gelangen würden. Günstigen Falls, rechneten wir, in
etwa drei Tagen; Vogel schätzte die Höhe der Independencia, die 148 m über
Cuyabá, 367 m über dem Meeresspiegel betrug, auf ungefähr 50 m über der
Kulisehumündung, es standen jedenfalls noch starke Stromschnellen oder Wasserfälle
in Aussicht. Mittlerweile sollten die andern Herren rekognoszieren, ob nicht auch
flussabwärts ein günstiger Lagerplatz zu finden sei, damit wir die Maultierstation
womöglich weiter vorschieben könnten. Erst im Fall eines Misserfolgs unserer
Kanufahrt kamen die Indianer, die wir nach dem Feuer im Osten vermuteten
und die sicher keine Bakaïrí waren, in Betracht. Unser Fluss war noch bedenk-
lich schmal. Von rechts her musste jedenfalls ein stärkerer Arm hinzutreten, da
die Einmündung unseres Kulisehu von 1884 in »Schingú-Koblenz« einem statt-
lichen Strom entsprach: gehörten die Indianer der östlichen Queimada zu seinem
Gebiet, so durften wir hoffen, von den Bakaïrí am besten bei ihnen eingeführt
zu werden.


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[44/0070] als weil es notwendig gewesen wäre, die Zelte auf. Die Vorräte verringerten sich bedenklich: wir hatten noch zwei Alqueires (à 50 Ltr) Bohnen und die letzten zwei Alqueires Farinha — sie allein giebt Kraft, während Bohnen und Fleisch nur den Magen beschweren, meinten unsere brasilischen Soldaten — waren bereits angebrochen, der Speck war aufgezehrt, nicht ohne nächtliche Beihilfe unserer Jagdhunde. Am 6. September Cerrado, Cerrado! Die Avantgarde säbelte wie besessen, um der Truppe einen Weg zu öffnen. Es war Pikade schlagen und nicht mehr markieren. Gegen 11 Uhr kamen wir endlich einmal an eine hochgelegene Lichtung und gewannen einen Ausblick nach Norden. Diavo, Cerrado, so weit das Auge reichte, Cerrado für Leguas hinaus! Wir sahen einander an und ver- standen uns ohne Worte: rechts schwenkt marsch zum Fluss hinab und weiter vorwärts auf dem Flusse selbst! In einer halben Stunde erreichten wir das Ufer und sahen, dass wir eine vortreffliche Ecke gefunden hatten: ein frischer 8 m breiter Bach floss hier ein, schlankstämmige Bäumchen für die Hängematten waren hinreichend vorhanden, und ein breites Stück Grasland schob sich waldfrei bis an diesen Lagerplatz vor. Die arme Truppe, sie erschien erst um 4 Uhr Nach- mittags: acht Esel hatten sich seitwärts in die Büsche geschlagen; einer war nach langem Suchen an einem Bach liegend gefunden worden, einer steckte noch im Walde und sie selbst, die fromme unbepackte Madrinha hatte dem Zuge ent- schlossen den Rücken gewandt und das Weite gesucht. »Viva a independencia!« riefen unsere Brasilier am Tage ihres Festes, den 7. September, und Independencia wurde der Name unseres Standquartiers: 13° 34',3 südl. Breite, 51° 58',5 westl. Länge von Greenwich. Es wurde beschlossen, dass Antonio ein Rindenkanu mache, wovon wir uns freilich jetzt am Ende der Trockenzeit, da die Rinde des Jatobá-Baumes dann spröde ist und zerspringt, nicht gerade das Beste versprechen durften, und dass ich mit ihm und Carlos mich einschiffe, um zu sehen, ob wir zu Indianern und, wenn das Glück uns hold war, zu Bakaïrí-Indianern gelangen würden. Günstigen Falls, rechneten wir, in etwa drei Tagen; Vogel schätzte die Höhe der Independencia, die 148 m über Cuyabá, 367 m über dem Meeresspiegel betrug, auf ungefähr 50 m über der Kulisehumündung, es standen jedenfalls noch starke Stromschnellen oder Wasserfälle in Aussicht. Mittlerweile sollten die andern Herren rekognoszieren, ob nicht auch flussabwärts ein günstiger Lagerplatz zu finden sei, damit wir die Maultierstation womöglich weiter vorschieben könnten. Erst im Fall eines Misserfolgs unserer Kanufahrt kamen die Indianer, die wir nach dem Feuer im Osten vermuteten und die sicher keine Bakaïrí waren, in Betracht. Unser Fluss war noch bedenk- lich schmal. Von rechts her musste jedenfalls ein stärkerer Arm hinzutreten, da die Einmündung unseres Kulisehu von 1884 in »Schingú-Koblenz« einem statt- lichen Strom entsprach: gehörten die Indianer der östlichen Queimada zu seinem Gebiet, so durften wir hoffen, von den Bakaïrí am besten bei ihnen eingeführt zu werden.

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/70>, abgerufen am 29.04.2024.