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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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folgt aus dem Gesagten, daß die Logik, wie alle ästhetischen
Wissenschaften, eine hypothetische Wissenschaft ist, womit ich
sagen will, daß sie bloß erklärt: wenn etwas gedacht wird, so
muß es so und so beschaffen sein; sie zeigt aber gar nicht, wie
man dazu kommt, dieses zu denken, d. h. sie ist nicht gene-
tisch
. Die Logik zeigt also gar nicht, wie wir zu richtigen
und falschen Gedanken kommen, weil sie überhaupt nicht dar-
auf sieht, wie ein Gedachtes im Denken entsteht. Sie beurtheilt
die Gedanken, die ihr gegeben werden, aber erklärt dieselben
nicht; sie billigt sie als richtig gedacht, oder verurtheilt sie als
unrichtig gedacht, ohne zu fragen, woher sie im einen oder an-
dern Falle kommen. Sie zeigt also die Beschaffenheit des rich-
tig Gedachten, nicht seine Genesis. -- Die Sprachwissenschaft
ganz im Gegentheil ist eine genetische Wissenschaft, die ihren
Gegenstand nicht bloß als seiend nimmt, sondern dessen Wer-
den und Entwickelung darlegt; denn hierin liegt das Wesen des
Gegenstandes und seine Verhältnisse im Innern, wie seine Be-
ziehung zu andern, was alles eben erkannt werden soll.

Die zweite Bemerkung betrifft die formale Natur der Lo-
gik. Weil nämlich der zu beurtheilende Gegenstand der Logik
das gegebene Gedachte ist, und zwar dieses rein an sich als
Erzeugniß des Denkens: so sieht sie nicht bloß von der psycho-
logischen Entstehung des Gedachten im Denken ab, sondern
auch von der Beziehung desselben zur Wirklichkeit, zum Da-
seienden, dessen Gedachtes es ist. Wegen dieser letztern Ei-
genthümlichkeit nennt man die Logik formal. Wie bei der Be-
trachtung des Dreiecks in der reinen Mathematik es gleichgültig
ist, von welchem Stoffe das Dreieck ist, indem eben bloß diese
Form des Dreiecks in Betracht kommt: so ist der Gegenstand
des der Logik vorliegenden Gedachten dieser Wissenschaft gleich-
gültig und nur die Denkform des Gedachten fällt ihrer Beur-
theilung anheim. Wegen dieser einseitigen Betrachtungsweise ist
die Logik unfähig zu beurtheilen, ob ein Gedanke wahr ist
oder nicht; sie weiß bloß, ob er richtig gedacht ist; d. h. sie
weiß, ob in einem Gedanken die Anforderungen des Denkens
an sich erfüllt sind, weiß aber nicht, ob dieser Gedanke das
Gedachte der Wirklichkeit ist. Diesen Mangel hat sie mit der
reinen Mathematik gemein. Gesetzt es zöge jemand einen Kreis
und den Durchmesser, und sagte uns: ich habe hier ein Qua-
drat mit einer Diagonale und werde nun beweisen, daß die

folgt aus dem Gesagten, daß die Logik, wie alle ästhetischen
Wissenschaften, eine hypothetische Wissenschaft ist, womit ich
sagen will, daß sie bloß erklärt: wenn etwas gedacht wird, so
muß es so und so beschaffen sein; sie zeigt aber gar nicht, wie
man dazu kommt, dieses zu denken, d. h. sie ist nicht gene-
tisch
. Die Logik zeigt also gar nicht, wie wir zu richtigen
und falschen Gedanken kommen, weil sie überhaupt nicht dar-
auf sieht, wie ein Gedachtes im Denken entsteht. Sie beurtheilt
die Gedanken, die ihr gegeben werden, aber erklärt dieselben
nicht; sie billigt sie als richtig gedacht, oder verurtheilt sie als
unrichtig gedacht, ohne zu fragen, woher sie im einen oder an-
dern Falle kommen. Sie zeigt also die Beschaffenheit des rich-
tig Gedachten, nicht seine Genesis. — Die Sprachwissenschaft
ganz im Gegentheil ist eine genetische Wissenschaft, die ihren
Gegenstand nicht bloß als seiend nimmt, sondern dessen Wer-
den und Entwickelung darlegt; denn hierin liegt das Wesen des
Gegenstandes und seine Verhältnisse im Innern, wie seine Be-
ziehung zu andern, was alles eben erkannt werden soll.

Die zweite Bemerkung betrifft die formale Natur der Lo-
gik. Weil nämlich der zu beurtheilende Gegenstand der Logik
das gegebene Gedachte ist, und zwar dieses rein an sich als
Erzeugniß des Denkens: so sieht sie nicht bloß von der psycho-
logischen Entstehung des Gedachten im Denken ab, sondern
auch von der Beziehung desselben zur Wirklichkeit, zum Da-
seienden, dessen Gedachtes es ist. Wegen dieser letztern Ei-
genthümlichkeit nennt man die Logik formal. Wie bei der Be-
trachtung des Dreiecks in der reinen Mathematik es gleichgültig
ist, von welchem Stoffe das Dreieck ist, indem eben bloß diese
Form des Dreiecks in Betracht kommt: so ist der Gegenstand
des der Logik vorliegenden Gedachten dieser Wissenschaft gleich-
gültig und nur die Denkform des Gedachten fällt ihrer Beur-
theilung anheim. Wegen dieser einseitigen Betrachtungsweise ist
die Logik unfähig zu beurtheilen, ob ein Gedanke wahr ist
oder nicht; sie weiß bloß, ob er richtig gedacht ist; d. h. sie
weiß, ob in einem Gedanken die Anforderungen des Denkens
an sich erfüllt sind, weiß aber nicht, ob dieser Gedanke das
Gedachte der Wirklichkeit ist. Diesen Mangel hat sie mit der
reinen Mathematik gemein. Gesetzt es zöge jemand einen Kreis
und den Durchmesser, und sagte uns: ich habe hier ein Qua-
drat mit einer Diagonale und werde nun beweisen, daß die

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[146/0184] folgt aus dem Gesagten, daß die Logik, wie alle ästhetischen Wissenschaften, eine hypothetische Wissenschaft ist, womit ich sagen will, daß sie bloß erklärt: wenn etwas gedacht wird, so muß es so und so beschaffen sein; sie zeigt aber gar nicht, wie man dazu kommt, dieses zu denken, d. h. sie ist nicht gene- tisch. Die Logik zeigt also gar nicht, wie wir zu richtigen und falschen Gedanken kommen, weil sie überhaupt nicht dar- auf sieht, wie ein Gedachtes im Denken entsteht. Sie beurtheilt die Gedanken, die ihr gegeben werden, aber erklärt dieselben nicht; sie billigt sie als richtig gedacht, oder verurtheilt sie als unrichtig gedacht, ohne zu fragen, woher sie im einen oder an- dern Falle kommen. Sie zeigt also die Beschaffenheit des rich- tig Gedachten, nicht seine Genesis. — Die Sprachwissenschaft ganz im Gegentheil ist eine genetische Wissenschaft, die ihren Gegenstand nicht bloß als seiend nimmt, sondern dessen Wer- den und Entwickelung darlegt; denn hierin liegt das Wesen des Gegenstandes und seine Verhältnisse im Innern, wie seine Be- ziehung zu andern, was alles eben erkannt werden soll. Die zweite Bemerkung betrifft die formale Natur der Lo- gik. Weil nämlich der zu beurtheilende Gegenstand der Logik das gegebene Gedachte ist, und zwar dieses rein an sich als Erzeugniß des Denkens: so sieht sie nicht bloß von der psycho- logischen Entstehung des Gedachten im Denken ab, sondern auch von der Beziehung desselben zur Wirklichkeit, zum Da- seienden, dessen Gedachtes es ist. Wegen dieser letztern Ei- genthümlichkeit nennt man die Logik formal. Wie bei der Be- trachtung des Dreiecks in der reinen Mathematik es gleichgültig ist, von welchem Stoffe das Dreieck ist, indem eben bloß diese Form des Dreiecks in Betracht kommt: so ist der Gegenstand des der Logik vorliegenden Gedachten dieser Wissenschaft gleich- gültig und nur die Denkform des Gedachten fällt ihrer Beur- theilung anheim. Wegen dieser einseitigen Betrachtungsweise ist die Logik unfähig zu beurtheilen, ob ein Gedanke wahr ist oder nicht; sie weiß bloß, ob er richtig gedacht ist; d. h. sie weiß, ob in einem Gedanken die Anforderungen des Denkens an sich erfüllt sind, weiß aber nicht, ob dieser Gedanke das Gedachte der Wirklichkeit ist. Diesen Mangel hat sie mit der reinen Mathematik gemein. Gesetzt es zöge jemand einen Kreis und den Durchmesser, und sagte uns: ich habe hier ein Qua- drat mit einer Diagonale und werde nun beweisen, daß die

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/184>, abgerufen am 27.04.2024.