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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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wenig, als der Ausdruck des Gesichtes, eine Erfindung mensch-
lichen Scharfsinnes ist. Jedes unwillkürliche Seufzen, jeder
Schmerzenslaut, so wie der Gesang stimmbegabter Thiere über-
zeugt uns, daß eine physiologische Nothwendigkeit die Erregung
sensibler Nerven und der Centralorgane vorzugsweise auf die Mus-
keln der Respiration und der Stimme überführt, theils um eine
erleichternde Ausgleichung der physischen Nervenerschütterung
zu bewirken, theils um der Seele auch dieses Mittel des Aus-
drucks innerer Zustände vorzuführen und es ihrer ausbildenden
Besitznahme und Verwendung zu übergeben."

Sobald ich die Erscheinungen der associirten und reflectir-
ten Bewegungen, zunächst in Müllers Vorlesungen, dann in sei-
nem Werke über die Physiologie, kennen lernte, gerieth ich auf
den Gedanken, daß auch die Sprache nur eine weitere und
höchst merkwürdige Ausbildung einer ursprünglich mechanisch
entstandenen Reflexbewegung sei, und bin erfreut, diese Ansicht
schon bei Kempelen, noch mehr aber bei Lotze zu finden, wo-
durch mir die Sache zur Gewißheit wird. Daß die Sprache
eine Erfindung sei, davon kann heute nur noch als von einer
ehemaligen Ansicht geschichtlich geredet werden. Immer aber
blieb doch die Ansicht der Sprachforscher, Humboldts sowohl,
wie der historischen, nur unbestimmt und schwankend. Nicht
Erfindung; aber was denn? das wußte man nicht klar zu sagen.
Jetzt kennen wir die ganze Gattung von Erscheinungen, denen
die Sprache als besondere Art unterzuordnen ist; und ich denke,
die obigen Citate sind allgemein verständlich.

Hiermit ist jedoch erst die Hälfte der Definition gegeben.
Zwischen dem Lachen und allen sonstigen Reflexbewegungen ei-
nerseits und der Sprache andererseits liegt eine große Kluft, die
wir erst noch, so weit es geschehen kann, auszufüllen uns be-
mühen müssen.

Zunächst noch eine anatomisch-physiologische Bemerkung.
Die Sprachbewegungen unterscheiden sich zuerst vom Lachen
und Weinen durch ihre größere Mannigfaltigkeit. Schon die
Interjectionen des Schmerzes und der Freude sind mannigfalti-
ger, als Lachen und Weinen; außerdem aber giebt es noch an-
dere Interjectionen, und diese überhaupt sind doch noch nicht
einmal die Anfänge der Sprache. Der Ausdruck der Gesichts-
züge aber, je nach den verschiedenen innern Erregungszuständen,
dürfte eine gleiche Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zeigen,

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wenig, als der Ausdruck des Gesichtes, eine Erfindung mensch-
lichen Scharfsinnes ist. Jedes unwillkürliche Seufzen, jeder
Schmerzenslaut, so wie der Gesang stimmbegabter Thiere über-
zeugt uns, daß eine physiologische Nothwendigkeit die Erregung
sensibler Nerven und der Centralorgane vorzugsweise auf die Mus-
keln der Respiration und der Stimme überführt, theils um eine
erleichternde Ausgleichung der physischen Nervenerschütterung
zu bewirken, theils um der Seele auch dieses Mittel des Aus-
drucks innerer Zustände vorzuführen und es ihrer ausbildenden
Besitznahme und Verwendung zu übergeben.“

Sobald ich die Erscheinungen der associirten und reflectir-
ten Bewegungen, zunächst in Müllers Vorlesungen, dann in sei-
nem Werke über die Physiologie, kennen lernte, gerieth ich auf
den Gedanken, daß auch die Sprache nur eine weitere und
höchst merkwürdige Ausbildung einer ursprünglich mechanisch
entstandenen Reflexbewegung sei, und bin erfreut, diese Ansicht
schon bei Kempelen, noch mehr aber bei Lotze zu finden, wo-
durch mir die Sache zur Gewißheit wird. Daß die Sprache
eine Erfindung sei, davon kann heute nur noch als von einer
ehemaligen Ansicht geschichtlich geredet werden. Immer aber
blieb doch die Ansicht der Sprachforscher, Humboldts sowohl,
wie der historischen, nur unbestimmt und schwankend. Nicht
Erfindung; aber was denn? das wußte man nicht klar zu sagen.
Jetzt kennen wir die ganze Gattung von Erscheinungen, denen
die Sprache als besondere Art unterzuordnen ist; und ich denke,
die obigen Citate sind allgemein verständlich.

Hiermit ist jedoch erst die Hälfte der Definition gegeben.
Zwischen dem Lachen und allen sonstigen Reflexbewegungen ei-
nerseits und der Sprache andererseits liegt eine große Kluft, die
wir erst noch, so weit es geschehen kann, auszufüllen uns be-
mühen müssen.

Zunächst noch eine anatomisch-physiologische Bemerkung.
Die Sprachbewegungen unterscheiden sich zuerst vom Lachen
und Weinen durch ihre größere Mannigfaltigkeit. Schon die
Interjectionen des Schmerzes und der Freude sind mannigfalti-
ger, als Lachen und Weinen; außerdem aber giebt es noch an-
dere Interjectionen, und diese überhaupt sind doch noch nicht
einmal die Anfänge der Sprache. Der Ausdruck der Gesichts-
züge aber, je nach den verschiedenen innern Erregungszuständen,
dürfte eine gleiche Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zeigen,

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[257/0295] wenig, als der Ausdruck des Gesichtes, eine Erfindung mensch- lichen Scharfsinnes ist. Jedes unwillkürliche Seufzen, jeder Schmerzenslaut, so wie der Gesang stimmbegabter Thiere über- zeugt uns, daß eine physiologische Nothwendigkeit die Erregung sensibler Nerven und der Centralorgane vorzugsweise auf die Mus- keln der Respiration und der Stimme überführt, theils um eine erleichternde Ausgleichung der physischen Nervenerschütterung zu bewirken, theils um der Seele auch dieses Mittel des Aus- drucks innerer Zustände vorzuführen und es ihrer ausbildenden Besitznahme und Verwendung zu übergeben.“ Sobald ich die Erscheinungen der associirten und reflectir- ten Bewegungen, zunächst in Müllers Vorlesungen, dann in sei- nem Werke über die Physiologie, kennen lernte, gerieth ich auf den Gedanken, daß auch die Sprache nur eine weitere und höchst merkwürdige Ausbildung einer ursprünglich mechanisch entstandenen Reflexbewegung sei, und bin erfreut, diese Ansicht schon bei Kempelen, noch mehr aber bei Lotze zu finden, wo- durch mir die Sache zur Gewißheit wird. Daß die Sprache eine Erfindung sei, davon kann heute nur noch als von einer ehemaligen Ansicht geschichtlich geredet werden. Immer aber blieb doch die Ansicht der Sprachforscher, Humboldts sowohl, wie der historischen, nur unbestimmt und schwankend. Nicht Erfindung; aber was denn? das wußte man nicht klar zu sagen. Jetzt kennen wir die ganze Gattung von Erscheinungen, denen die Sprache als besondere Art unterzuordnen ist; und ich denke, die obigen Citate sind allgemein verständlich. Hiermit ist jedoch erst die Hälfte der Definition gegeben. Zwischen dem Lachen und allen sonstigen Reflexbewegungen ei- nerseits und der Sprache andererseits liegt eine große Kluft, die wir erst noch, so weit es geschehen kann, auszufüllen uns be- mühen müssen. Zunächst noch eine anatomisch-physiologische Bemerkung. Die Sprachbewegungen unterscheiden sich zuerst vom Lachen und Weinen durch ihre größere Mannigfaltigkeit. Schon die Interjectionen des Schmerzes und der Freude sind mannigfalti- ger, als Lachen und Weinen; außerdem aber giebt es noch an- dere Interjectionen, und diese überhaupt sind doch noch nicht einmal die Anfänge der Sprache. Der Ausdruck der Gesichts- züge aber, je nach den verschiedenen innern Erregungszuständen, dürfte eine gleiche Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zeigen, 17

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/295>, abgerufen am 29.04.2024.