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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Kind, wird solche Laute ursprünglich schaffen; das Kind spricht
gehörte Laute nach.

So denken wir uns den Vorgang der Schöpfung der Ding-,
Merkmal- und Thätigkeitswörter. Sie werden geschaffen, wie
wir dies oben bei der Darlegung der innern Sprachform gezeigt
haben. Uebrigens werden nun auch absolute Thätigkeiten wahr-
genommen, Thätigkeiten ohne Thuendes: blitzen, donnern, heu-
len, fließen, leuchten u. s. w. Sie werden benannt, und die Wör-
ter für sie werden nicht anders gebildet, als wir oben dargelegt
haben. Wenn man also meint, Dingwörter seien nicht die er-
sten, da ihnen allemal Merkmalswörter zu Grunde liegen: so
ist ganz dasselbe von den Thätigkeitswörtern zu sagen, denen
ebenfalls immer Merkmale zu Grunde liegen. Die Thätigkeit
wird ganz wie eine Substanz betrachtet, und der Eindruck, den
sie auf die Seele ausübt, reflectirt sich in einem Laute. Auch
hat eine Thätigkeit viele Merkmale, von denen eines endlich
alle vertritt und die Thätigkeit selbst bedeutet. Die ersten Wör-
ter sind also Merkmalsbezeichnungen und mithin, wollte man
einen grammatischen Ausdruck gebrauchen, Adverbia.

Dies ist nun also der vorzüglichste Unterschied zwischen
Anschauung und Vorstellung, daß jene einen Complex von Em-
pfindungen ungeschieden vergegenwärtigt, die Vorstellung dage-
gen Ding und Merkmal scheidet. Da es nun aber dennoch dar-
auf ankommt, Anschauungen auszudrücken, also den Complex
von Ding und Merkmal: so kann dies nicht anders geschehen,
als indem man die einzelnen Ding- und Merkmalsvorstellungen
im Urtheile zusammensetzt. Darum lebt die Vorstellung nur im
Satze, während sie als isolirtes Wort eine aus dem Empfindungs-
complex einer Anschauung herausgerissene, abgelöste einzelne
Empfindung ist, also ein todtes Abstractum, ein abgestorbenes
Glied eines lebendigen Organismus. Vorstellung ist wesentlich
Satz; der Satz ist das Urtheil der Vorstellung. Und so wird
nun erst im Satze recht klar, was es heißt, wenn wir sagen,
Sprache sei Anschauung der Anschauung; denn das Subject des
Satzes ist die angeschaute Anschauung, und das Prädicat ist
das Ergebniß dieses Anschauens der Anschauung, das an der
Anschauung Geschaute, das als was das Angeschaute erkannt,
vorgestellt wird. Streng genommen aber sollten wir sagen, der
Satz sei die Vorstellung der Vorstellung. Denn das Wort als
Vorstellung ist schon die Anschauung der Anschauung, das Wort

Kind, wird solche Laute ursprünglich schaffen; das Kind spricht
gehörte Laute nach.

So denken wir uns den Vorgang der Schöpfung der Ding-,
Merkmal- und Thätigkeitswörter. Sie werden geschaffen, wie
wir dies oben bei der Darlegung der innern Sprachform gezeigt
haben. Uebrigens werden nun auch absolute Thätigkeiten wahr-
genommen, Thätigkeiten ohne Thuendes: blitzen, donnern, heu-
len, fließen, leuchten u. s. w. Sie werden benannt, und die Wör-
ter für sie werden nicht anders gebildet, als wir oben dargelegt
haben. Wenn man also meint, Dingwörter seien nicht die er-
sten, da ihnen allemal Merkmalswörter zu Grunde liegen: so
ist ganz dasselbe von den Thätigkeitswörtern zu sagen, denen
ebenfalls immer Merkmale zu Grunde liegen. Die Thätigkeit
wird ganz wie eine Substanz betrachtet, und der Eindruck, den
sie auf die Seele ausübt, reflectirt sich in einem Laute. Auch
hat eine Thätigkeit viele Merkmale, von denen eines endlich
alle vertritt und die Thätigkeit selbst bedeutet. Die ersten Wör-
ter sind also Merkmalsbezeichnungen und mithin, wollte man
einen grammatischen Ausdruck gebrauchen, Adverbia.

Dies ist nun also der vorzüglichste Unterschied zwischen
Anschauung und Vorstellung, daß jene einen Complex von Em-
pfindungen ungeschieden vergegenwärtigt, die Vorstellung dage-
gen Ding und Merkmal scheidet. Da es nun aber dennoch dar-
auf ankommt, Anschauungen auszudrücken, also den Complex
von Ding und Merkmal: so kann dies nicht anders geschehen,
als indem man die einzelnen Ding- und Merkmalsvorstellungen
im Urtheile zusammensetzt. Darum lebt die Vorstellung nur im
Satze, während sie als isolirtes Wort eine aus dem Empfindungs-
complex einer Anschauung herausgerissene, abgelöste einzelne
Empfindung ist, also ein todtes Abstractum, ein abgestorbenes
Glied eines lebendigen Organismus. Vorstellung ist wesentlich
Satz; der Satz ist das Urtheil der Vorstellung. Und so wird
nun erst im Satze recht klar, was es heißt, wenn wir sagen,
Sprache sei Anschauung der Anschauung; denn das Subject des
Satzes ist die angeschaute Anschauung, und das Prädicat ist
das Ergebniß dieses Anschauens der Anschauung, das an der
Anschauung Geschaute, das als was das Angeschaute erkannt,
vorgestellt wird. Streng genommen aber sollten wir sagen, der
Satz sei die Vorstellung der Vorstellung. Denn das Wort als
Vorstellung ist schon die Anschauung der Anschauung, das Wort

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[328/0366] Kind, wird solche Laute ursprünglich schaffen; das Kind spricht gehörte Laute nach. So denken wir uns den Vorgang der Schöpfung der Ding-, Merkmal- und Thätigkeitswörter. Sie werden geschaffen, wie wir dies oben bei der Darlegung der innern Sprachform gezeigt haben. Uebrigens werden nun auch absolute Thätigkeiten wahr- genommen, Thätigkeiten ohne Thuendes: blitzen, donnern, heu- len, fließen, leuchten u. s. w. Sie werden benannt, und die Wör- ter für sie werden nicht anders gebildet, als wir oben dargelegt haben. Wenn man also meint, Dingwörter seien nicht die er- sten, da ihnen allemal Merkmalswörter zu Grunde liegen: so ist ganz dasselbe von den Thätigkeitswörtern zu sagen, denen ebenfalls immer Merkmale zu Grunde liegen. Die Thätigkeit wird ganz wie eine Substanz betrachtet, und der Eindruck, den sie auf die Seele ausübt, reflectirt sich in einem Laute. Auch hat eine Thätigkeit viele Merkmale, von denen eines endlich alle vertritt und die Thätigkeit selbst bedeutet. Die ersten Wör- ter sind also Merkmalsbezeichnungen und mithin, wollte man einen grammatischen Ausdruck gebrauchen, Adverbia. Dies ist nun also der vorzüglichste Unterschied zwischen Anschauung und Vorstellung, daß jene einen Complex von Em- pfindungen ungeschieden vergegenwärtigt, die Vorstellung dage- gen Ding und Merkmal scheidet. Da es nun aber dennoch dar- auf ankommt, Anschauungen auszudrücken, also den Complex von Ding und Merkmal: so kann dies nicht anders geschehen, als indem man die einzelnen Ding- und Merkmalsvorstellungen im Urtheile zusammensetzt. Darum lebt die Vorstellung nur im Satze, während sie als isolirtes Wort eine aus dem Empfindungs- complex einer Anschauung herausgerissene, abgelöste einzelne Empfindung ist, also ein todtes Abstractum, ein abgestorbenes Glied eines lebendigen Organismus. Vorstellung ist wesentlich Satz; der Satz ist das Urtheil der Vorstellung. Und so wird nun erst im Satze recht klar, was es heißt, wenn wir sagen, Sprache sei Anschauung der Anschauung; denn das Subject des Satzes ist die angeschaute Anschauung, und das Prädicat ist das Ergebniß dieses Anschauens der Anschauung, das an der Anschauung Geschaute, das als was das Angeschaute erkannt, vorgestellt wird. Streng genommen aber sollten wir sagen, der Satz sei die Vorstellung der Vorstellung. Denn das Wort als Vorstellung ist schon die Anschauung der Anschauung, das Wort

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/366>, abgerufen am 28.04.2024.