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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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sche oder blöde Dialektik kann den Unterschied verwischen wol-
len. Dieselbe Größe kann sowohl positiv, als negativ angesehen
werden; aber sofern sie als eines von beiden, etwa als negativ
angenommen ist, hat sie nothwendig die positive Größe sich
gegenüber und kann nicht selbst in derselben Beziehung positiv
und negativ zugleich sein. Eben so verhält es sich mit Stoff
und Form. Die Formbestimmung ändert nie den Stoff; ändert
etwas den Stoff: so ist es Bestimmung des Stoffes, nicht der
Form. Man darf die Kategorien nicht ungehörig anwenden und
muß wissen, wohin eine jede gehört.

Der Grundsatz der Verschiedenheit entgegengesetzter Be-
griffe steht a priori so fest, daß andererseits, wenn man uns
eine Einheit derselben vorhält, eine zu Grunde liegende Täu-
schung nothwendig und a priori vorausgesetzt werden muß.
Denn die Gleichheit entgegengesetzter Begriffe ist undenkbar
und folglich noch weniger wirklich. Die Einheit des Wider-
spruches von Positivem und Negativem ist nicht "der Grund";
sondern der Grund dieser Einheit ist eine Täuschung.

Allem Gegensatze muß wohl eine Einheit zu Grunde lie-
gen; Einheit und Gegensatz sind bezügliche Begriffe, und keiner
ist ohne den andern. Insofern aber zwei Begriffe entgegenge-
setzt sind, sind sie nicht identisch; und insofern sie identisch
sind, sind sie nicht entgegengesetzt.

Was der Verstand trennt, mag die Vernunft vereinigen;
aber sie darf es nicht vermengen und verwirren. Denn Ver-
stand und Vernunft sind nur dieselbe Intelligenz, die immer nach
denselben logischen Gesetzen erkennt, bald scheidend, bald zu-
sammenfassend; und diese eine Intelligenz kann nicht als Ver-
nunft ihrer verständigen Thätigkeit Hohn sprechen.

Dergleichen sich von selbst verstehende Dinge müssen frei-
lich gesagt werden, wenn einmal die bis zum Wahnwitze gestei-
gerte, sich mit dem Widerspruche gegen den gemeinen Sinn
kitzelnde Eitelkeit in die Philosophie und bis in die Logik selbst
gedrungen ist; wobei man denn vor allem natürlich auch sich
selbst vergißt. Denn wäre die Identität des Widerspruches denk-
bar, so würde, da der Widerspruch allein das Treibende in der
dialektischen Selbstbewegung des sich denkenden Begriffs sein
soll, diese ganze Bewegung gar nicht Statt haben, und der Geist
ruhig im ersten Widerspruche zwischen Sein und Nichtsein ver-
harren, ohne Bedürfniß aus ihm herauszutreten und fortzuschrei-

sche oder blöde Dialektik kann den Unterschied verwischen wol-
len. Dieselbe Größe kann sowohl positiv, als negativ angesehen
werden; aber sofern sie als eines von beiden, etwa als negativ
angenommen ist, hat sie nothwendig die positive Größe sich
gegenüber und kann nicht selbst in derselben Beziehung positiv
und negativ zugleich sein. Eben so verhält es sich mit Stoff
und Form. Die Formbestimmung ändert nie den Stoff; ändert
etwas den Stoff: so ist es Bestimmung des Stoffes, nicht der
Form. Man darf die Kategorien nicht ungehörig anwenden und
muß wissen, wohin eine jede gehört.

Der Grundsatz der Verschiedenheit entgegengesetzter Be-
griffe steht a priori so fest, daß andererseits, wenn man uns
eine Einheit derselben vorhält, eine zu Grunde liegende Täu-
schung nothwendig und a priori vorausgesetzt werden muß.
Denn die Gleichheit entgegengesetzter Begriffe ist undenkbar
und folglich noch weniger wirklich. Die Einheit des Wider-
spruches von Positivem und Negativem ist nicht „der Grund“;
sondern der Grund dieser Einheit ist eine Täuschung.

Allem Gegensatze muß wohl eine Einheit zu Grunde lie-
gen; Einheit und Gegensatz sind bezügliche Begriffe, und keiner
ist ohne den andern. Insofern aber zwei Begriffe entgegenge-
setzt sind, sind sie nicht identisch; und insofern sie identisch
sind, sind sie nicht entgegengesetzt.

Was der Verstand trennt, mag die Vernunft vereinigen;
aber sie darf es nicht vermengen und verwirren. Denn Ver-
stand und Vernunft sind nur dieselbe Intelligenz, die immer nach
denselben logischen Gesetzen erkennt, bald scheidend, bald zu-
sammenfassend; und diese eine Intelligenz kann nicht als Ver-
nunft ihrer verständigen Thätigkeit Hohn sprechen.

Dergleichen sich von selbst verstehende Dinge müssen frei-
lich gesagt werden, wenn einmal die bis zum Wahnwitze gestei-
gerte, sich mit dem Widerspruche gegen den gemeinen Sinn
kitzelnde Eitelkeit in die Philosophie und bis in die Logik selbst
gedrungen ist; wobei man denn vor allem natürlich auch sich
selbst vergißt. Denn wäre die Identität des Widerspruches denk-
bar, so würde, da der Widerspruch allein das Treibende in der
dialektischen Selbstbewegung des sich denkenden Begriffs sein
soll, diese ganze Bewegung gar nicht Statt haben, und der Geist
ruhig im ersten Widerspruche zwischen Sein und Nichtsein ver-
harren, ohne Bedürfniß aus ihm herauszutreten und fortzuschrei-

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[356/0394] sche oder blöde Dialektik kann den Unterschied verwischen wol- len. Dieselbe Größe kann sowohl positiv, als negativ angesehen werden; aber sofern sie als eines von beiden, etwa als negativ angenommen ist, hat sie nothwendig die positive Größe sich gegenüber und kann nicht selbst in derselben Beziehung positiv und negativ zugleich sein. Eben so verhält es sich mit Stoff und Form. Die Formbestimmung ändert nie den Stoff; ändert etwas den Stoff: so ist es Bestimmung des Stoffes, nicht der Form. Man darf die Kategorien nicht ungehörig anwenden und muß wissen, wohin eine jede gehört. Der Grundsatz der Verschiedenheit entgegengesetzter Be- griffe steht a priori so fest, daß andererseits, wenn man uns eine Einheit derselben vorhält, eine zu Grunde liegende Täu- schung nothwendig und a priori vorausgesetzt werden muß. Denn die Gleichheit entgegengesetzter Begriffe ist undenkbar und folglich noch weniger wirklich. Die Einheit des Wider- spruches von Positivem und Negativem ist nicht „der Grund“; sondern der Grund dieser Einheit ist eine Täuschung. Allem Gegensatze muß wohl eine Einheit zu Grunde lie- gen; Einheit und Gegensatz sind bezügliche Begriffe, und keiner ist ohne den andern. Insofern aber zwei Begriffe entgegenge- setzt sind, sind sie nicht identisch; und insofern sie identisch sind, sind sie nicht entgegengesetzt. Was der Verstand trennt, mag die Vernunft vereinigen; aber sie darf es nicht vermengen und verwirren. Denn Ver- stand und Vernunft sind nur dieselbe Intelligenz, die immer nach denselben logischen Gesetzen erkennt, bald scheidend, bald zu- sammenfassend; und diese eine Intelligenz kann nicht als Ver- nunft ihrer verständigen Thätigkeit Hohn sprechen. Dergleichen sich von selbst verstehende Dinge müssen frei- lich gesagt werden, wenn einmal die bis zum Wahnwitze gestei- gerte, sich mit dem Widerspruche gegen den gemeinen Sinn kitzelnde Eitelkeit in die Philosophie und bis in die Logik selbst gedrungen ist; wobei man denn vor allem natürlich auch sich selbst vergißt. Denn wäre die Identität des Widerspruches denk- bar, so würde, da der Widerspruch allein das Treibende in der dialektischen Selbstbewegung des sich denkenden Begriffs sein soll, diese ganze Bewegung gar nicht Statt haben, und der Geist ruhig im ersten Widerspruche zwischen Sein und Nichtsein ver- harren, ohne Bedürfniß aus ihm herauszutreten und fortzuschrei-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/394>, abgerufen am 29.04.2024.