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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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fallen nicht weniger verbaler Natur als: daß du fällst. Umge-
kehrt: du fürchtest zu fallen; du fürchtest, daß ich falle. Hieran
schließt sich der Accusativus cum Infinitivo, wo sogar bei ver-
ändertem Subjecte das Verbum im Infinitiv steht, weil die Per-
sonalbeziehung durch den dabei stehenden Accusativ zweifellos
gemacht wird. Ich sehe daher nicht im mindesten ein, mit
welchem Rechte behauptet worden ist: "Wenn ich sage: ich
sehe den Menschen gehen" (hier fühlen auch wir noch lebendig
den Accusativ cum inf.) "sondere ich allerdings das Merkmal
des Gehens an dem Menschen ab". Hier wird "gehen" nicht
mehr von "den Menschen" abgesondert, als wenn ich sage: der
Mensch geht
; es wird nämlich nur insofern abgesondert, als es
eine aus der Totalität der Anschauung des gehenden Menschen
abgelöste Vorstellung ist. Diese Absonderung ist nothwendig;
denn auf ihr beruht der Proceß der Bildung der Vorstellung,
also der Sprache selbst. Die Absonderung wird aber nur ge-
setzt, um sogleich wieder aufgehoben zu werden; dies geschieht
in geht durch die bestimmte Personalbeziehung, in gehen durch
die zwar unbestimmte, aber darum nicht minder kräftige, Per-
sonalbeziehung. Der Accusativ c. inf. läßt sich als Attraction
auffassen. Ich sehe den Menschen gehen bedeutet ganz dasselbe,
wie: ich sehe das: der Mensch geht (ich sehe, daß der Mensch
geht); statt des Accusativs das setzt man das Subject des er-
klärenden Satzes in den Accusativ. Hierdurch verliert der er-
klärende Satz seine Selbständigkeit; er wird in den Hauptsatz
hineingezogen. Folglich muß sein Verbum, sein Prädicat seine
satzbildende Kraft verlieren, aber nicht seine prädicative; dies
wird erreicht, indem die finite Personalbeziehung in die infinite
verwandelt wird.

Selbst in den Fällen, wo der Infinitiv als Subject steht,
wie: irren ist menschlich ist der Infinitiv verbal und nicht no-
minal; denn hier bezieht sich der Infinitiv auf die allgemeine
Person man, und ist ein Satzverhältniß oder ein abgekürzter
Satz, gleich: daß man irrt. Man vergleiche: irren ist mensch-
lich
mit: der Irrthum ist menschlich.

Die Bedeutung des Infinitivs läge also darin: mit voller
verbaler Energie begabt zu sein, zwar nicht finite, aber doch
infinite Personalbeziehung zu bezeichnen, zwar nicht satzbildende,
aber dennoch prädicative Kraft zu haben. Er ist mithin durch-
aus verbal, und vorzüglich geeignet, abhängige, unselbständige

fallen nicht weniger verbaler Natur als: daß du fällst. Umge-
kehrt: du fürchtest zu fallen; du fürchtest, daß ich falle. Hieran
schließt sich der Accusativus cum Infinitivo, wo sogar bei ver-
ändertem Subjecte das Verbum im Infinitiv steht, weil die Per-
sonalbeziehung durch den dabei stehenden Accusativ zweifellos
gemacht wird. Ich sehe daher nicht im mindesten ein, mit
welchem Rechte behauptet worden ist: „Wenn ich sage: ich
sehe den Menschen gehen“ (hier fühlen auch wir noch lebendig
den Accusativ cum inf.) „sondere ich allerdings das Merkmal
des Gehens an dem Menschen ab“. Hier wird „gehen“ nicht
mehr von „den Menschen“ abgesondert, als wenn ich sage: der
Mensch geht
; es wird nämlich nur insofern abgesondert, als es
eine aus der Totalität der Anschauung des gehenden Menschen
abgelöste Vorstellung ist. Diese Absonderung ist nothwendig;
denn auf ihr beruht der Proceß der Bildung der Vorstellung,
also der Sprache selbst. Die Absonderung wird aber nur ge-
setzt, um sogleich wieder aufgehoben zu werden; dies geschieht
in geht durch die bestimmte Personalbeziehung, in gehen durch
die zwar unbestimmte, aber darum nicht minder kräftige, Per-
sonalbeziehung. Der Accusativ c. inf. läßt sich als Attraction
auffassen. Ich sehe den Menschen gehen bedeutet ganz dasselbe,
wie: ich sehe das: der Mensch geht (ich sehe, daß der Mensch
geht); statt des Accusativs das setzt man das Subject des er-
klärenden Satzes in den Accusativ. Hierdurch verliert der er-
klärende Satz seine Selbständigkeit; er wird in den Hauptsatz
hineingezogen. Folglich muß sein Verbum, sein Prädicat seine
satzbildende Kraft verlieren, aber nicht seine prädicative; dies
wird erreicht, indem die finite Personalbeziehung in die infinite
verwandelt wird.

Selbst in den Fällen, wo der Infinitiv als Subject steht,
wie: irren ist menschlich ist der Infinitiv verbal und nicht no-
minal; denn hier bezieht sich der Infinitiv auf die allgemeine
Person man, und ist ein Satzverhältniß oder ein abgekürzter
Satz, gleich: daß man irrt. Man vergleiche: irren ist mensch-
lich
mit: der Irrthum ist menschlich.

Die Bedeutung des Infinitivs läge also darin: mit voller
verbaler Energie begabt zu sein, zwar nicht finite, aber doch
infinite Personalbeziehung zu bezeichnen, zwar nicht satzbildende,
aber dennoch prädicative Kraft zu haben. Er ist mithin durch-
aus verbal, und vorzüglich geeignet, abhängige, unselbständige

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[372/0410] fallen nicht weniger verbaler Natur als: daß du fällst. Umge- kehrt: du fürchtest zu fallen; du fürchtest, daß ich falle. Hieran schließt sich der Accusativus cum Infinitivo, wo sogar bei ver- ändertem Subjecte das Verbum im Infinitiv steht, weil die Per- sonalbeziehung durch den dabei stehenden Accusativ zweifellos gemacht wird. Ich sehe daher nicht im mindesten ein, mit welchem Rechte behauptet worden ist: „Wenn ich sage: ich sehe den Menschen gehen“ (hier fühlen auch wir noch lebendig den Accusativ cum inf.) „sondere ich allerdings das Merkmal des Gehens an dem Menschen ab“. Hier wird „gehen“ nicht mehr von „den Menschen“ abgesondert, als wenn ich sage: der Mensch geht; es wird nämlich nur insofern abgesondert, als es eine aus der Totalität der Anschauung des gehenden Menschen abgelöste Vorstellung ist. Diese Absonderung ist nothwendig; denn auf ihr beruht der Proceß der Bildung der Vorstellung, also der Sprache selbst. Die Absonderung wird aber nur ge- setzt, um sogleich wieder aufgehoben zu werden; dies geschieht in geht durch die bestimmte Personalbeziehung, in gehen durch die zwar unbestimmte, aber darum nicht minder kräftige, Per- sonalbeziehung. Der Accusativ c. inf. läßt sich als Attraction auffassen. Ich sehe den Menschen gehen bedeutet ganz dasselbe, wie: ich sehe das: der Mensch geht (ich sehe, daß der Mensch geht); statt des Accusativs das setzt man das Subject des er- klärenden Satzes in den Accusativ. Hierdurch verliert der er- klärende Satz seine Selbständigkeit; er wird in den Hauptsatz hineingezogen. Folglich muß sein Verbum, sein Prädicat seine satzbildende Kraft verlieren, aber nicht seine prädicative; dies wird erreicht, indem die finite Personalbeziehung in die infinite verwandelt wird. Selbst in den Fällen, wo der Infinitiv als Subject steht, wie: irren ist menschlich ist der Infinitiv verbal und nicht no- minal; denn hier bezieht sich der Infinitiv auf die allgemeine Person man, und ist ein Satzverhältniß oder ein abgekürzter Satz, gleich: daß man irrt. Man vergleiche: irren ist mensch- lich mit: der Irrthum ist menschlich. Die Bedeutung des Infinitivs läge also darin: mit voller verbaler Energie begabt zu sein, zwar nicht finite, aber doch infinite Personalbeziehung zu bezeichnen, zwar nicht satzbildende, aber dennoch prädicative Kraft zu haben. Er ist mithin durch- aus verbal, und vorzüglich geeignet, abhängige, unselbständige

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/410>, abgerufen am 29.04.2024.