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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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die Formen der fremden Sprache wiederzugeben sind. Und in
diesem Sinne sind ja die meisten Grammatiken bisher wirklich
gemacht. Wir haben aber hierauf mit einer alten, vielfach wie-
derholten Bemerkung zu erwiedern. Es läßt sich wohl alles
ungefähr aus einer Sprache in die andere übersetzen, aber eben
nur ungefähr; man weiß, wie die Wörter zweier Sprachen für
dieselbe Vorstellung sich meist wie Synonyma verhalten, d. h.
neben der Gleichheit der Bedeutung einen feinen Unterschied
zeigen. Diese Verschiedenheit der Wörter verschiedener Spra-
chen wird noch größer, wenn man auf die innere Sprachform,
d. h. die Etymologie, zurückgeht. Unser Sohn und Tochter sind
nicht die lateinischen filius und filia, wie sie es auch juristisch,
im Verhältniß zu den Eltern, nicht sind. Gemeinsam haben
jene Wörter nur das reale Verhältniß, welches aber jenseits der
Sprache liegt. Ein solches Gemeinsames findet sich aber nicht
einmal überall, sondern nur da, wo dasselbe Ding nothwendig
zu benennen war. Wo es aber auf abstracte Begriffe ankommt,
wo also das zu Bezeichnende selbst erst zu erschaffen war, da
fehlt oft geradezu ein dem Worte der einen Sprache entspre-
chendes der andern, weil das andere Volk diesen Begriff nicht
gebildet hat. Auch hat man immer erkannt, daß nur die Wör-
terbücher, welche die darzustellende Sprache zum Ausgangspunkte
nahmen, den wirklichen Wortschatz dieser Sprache darstellen
und die wahrhafte Bedeutung der Wörter angeben. Und bei
der Grammatik sollte es anders sein? hier, wo es sich nur um
abstracte Formelemente handelt? wo alles, was bezeichnet wer-
den soll, selbst erst innerlich, subjectiv erkannt, geschaffen wer-
den muß; wo nichts gegeben ist, sondern alles auf der Energie
des instinctiven Selbstbewußtseins beruht? Welche Formen hat
eine Sprache? Das soll die Grammatik lehren; nicht aber: wel-
che Form entspricht dieser deutschen, jener lateinischen, oder
einer abstract logischen? Denn dies ist oft unsagbar, weil gar
keine genau entspricht.

Endlich sei noch bemerkt, daß der allgemeinen Gramma-
tik, als dem gemeinsamen Kategorienschema aller Sprachen, die
oberflächlichste und abstracteste Bedeutung des Allgemeinen zu
Grunde liegt. Das wahrhaft Allgemeine ist völlig untrennbar
von dem Einzelnen, dessen schöpferische Kraft es ist. Doch
dies führt auf

die Formen der fremden Sprache wiederzugeben sind. Und in
diesem Sinne sind ja die meisten Grammatiken bisher wirklich
gemacht. Wir haben aber hierauf mit einer alten, vielfach wie-
derholten Bemerkung zu erwiedern. Es läßt sich wohl alles
ungefähr aus einer Sprache in die andere übersetzen, aber eben
nur ungefähr; man weiß, wie die Wörter zweier Sprachen für
dieselbe Vorstellung sich meist wie Synonyma verhalten, d. h.
neben der Gleichheit der Bedeutung einen feinen Unterschied
zeigen. Diese Verschiedenheit der Wörter verschiedener Spra-
chen wird noch größer, wenn man auf die innere Sprachform,
d. h. die Etymologie, zurückgeht. Unser Sohn und Tochter sind
nicht die lateinischen filius und filia, wie sie es auch juristisch,
im Verhältniß zu den Eltern, nicht sind. Gemeinsam haben
jene Wörter nur das reale Verhältniß, welches aber jenseits der
Sprache liegt. Ein solches Gemeinsames findet sich aber nicht
einmal überall, sondern nur da, wo dasselbe Ding nothwendig
zu benennen war. Wo es aber auf abstracte Begriffe ankommt,
wo also das zu Bezeichnende selbst erst zu erschaffen war, da
fehlt oft geradezu ein dem Worte der einen Sprache entspre-
chendes der andern, weil das andere Volk diesen Begriff nicht
gebildet hat. Auch hat man immer erkannt, daß nur die Wör-
terbücher, welche die darzustellende Sprache zum Ausgangspunkte
nahmen, den wirklichen Wortschatz dieser Sprache darstellen
und die wahrhafte Bedeutung der Wörter angeben. Und bei
der Grammatik sollte es anders sein? hier, wo es sich nur um
abstracte Formelemente handelt? wo alles, was bezeichnet wer-
den soll, selbst erst innerlich, subjectiv erkannt, geschaffen wer-
den muß; wo nichts gegeben ist, sondern alles auf der Energie
des instinctiven Selbstbewußtseins beruht? Welche Formen hat
eine Sprache? Das soll die Grammatik lehren; nicht aber: wel-
che Form entspricht dieser deutschen, jener lateinischen, oder
einer abstract logischen? Denn dies ist oft unsagbar, weil gar
keine genau entspricht.

Endlich sei noch bemerkt, daß der allgemeinen Gramma-
tik, als dem gemeinsamen Kategorienschema aller Sprachen, die
oberflächlichste und abstracteste Bedeutung des Allgemeinen zu
Grunde liegt. Das wahrhaft Allgemeine ist völlig untrennbar
von dem Einzelnen, dessen schöpferische Kraft es ist. Doch
dies führt auf

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[386/0424] die Formen der fremden Sprache wiederzugeben sind. Und in diesem Sinne sind ja die meisten Grammatiken bisher wirklich gemacht. Wir haben aber hierauf mit einer alten, vielfach wie- derholten Bemerkung zu erwiedern. Es läßt sich wohl alles ungefähr aus einer Sprache in die andere übersetzen, aber eben nur ungefähr; man weiß, wie die Wörter zweier Sprachen für dieselbe Vorstellung sich meist wie Synonyma verhalten, d. h. neben der Gleichheit der Bedeutung einen feinen Unterschied zeigen. Diese Verschiedenheit der Wörter verschiedener Spra- chen wird noch größer, wenn man auf die innere Sprachform, d. h. die Etymologie, zurückgeht. Unser Sohn und Tochter sind nicht die lateinischen filius und filia, wie sie es auch juristisch, im Verhältniß zu den Eltern, nicht sind. Gemeinsam haben jene Wörter nur das reale Verhältniß, welches aber jenseits der Sprache liegt. Ein solches Gemeinsames findet sich aber nicht einmal überall, sondern nur da, wo dasselbe Ding nothwendig zu benennen war. Wo es aber auf abstracte Begriffe ankommt, wo also das zu Bezeichnende selbst erst zu erschaffen war, da fehlt oft geradezu ein dem Worte der einen Sprache entspre- chendes der andern, weil das andere Volk diesen Begriff nicht gebildet hat. Auch hat man immer erkannt, daß nur die Wör- terbücher, welche die darzustellende Sprache zum Ausgangspunkte nahmen, den wirklichen Wortschatz dieser Sprache darstellen und die wahrhafte Bedeutung der Wörter angeben. Und bei der Grammatik sollte es anders sein? hier, wo es sich nur um abstracte Formelemente handelt? wo alles, was bezeichnet wer- den soll, selbst erst innerlich, subjectiv erkannt, geschaffen wer- den muß; wo nichts gegeben ist, sondern alles auf der Energie des instinctiven Selbstbewußtseins beruht? Welche Formen hat eine Sprache? Das soll die Grammatik lehren; nicht aber: wel- che Form entspricht dieser deutschen, jener lateinischen, oder einer abstract logischen? Denn dies ist oft unsagbar, weil gar keine genau entspricht. Endlich sei noch bemerkt, daß der allgemeinen Gramma- tik, als dem gemeinsamen Kategorienschema aller Sprachen, die oberflächlichste und abstracteste Bedeutung des Allgemeinen zu Grunde liegt. Das wahrhaft Allgemeine ist völlig untrennbar von dem Einzelnen, dessen schöpferische Kraft es ist. Doch dies führt auf

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/424>, abgerufen am 29.04.2024.