Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Begriff zur Abgrenzung der Dinge gebraucht wird. Nun be-
zeichnet man allerdings gewöhnlich mit dem Worte Organismus
ein Reich bestimmter natürlicher Wesen: dies macht sich in der
ersten Verdrehung geltend. Da aber ein bloß methodologischer,
auf alle Dinge anwendbarer Begriff dieser Beschränkung Trotz
bot, so entstand der Rückschlag, und Becker erfuhr nur die
Ironie, daß er mit der Absicht, den Organismus zu definiren,
vielmehr ganz im Gegentheil die Natur als organisch erweist,
indem er darstellt, wie auch in ihr der Gedanke, der Zweck
herrscht. Hier erinnern wir an die schon oben besprochenen
Worte: "Das allgemeine Leben wird zu einem organischen."
Der Ausdruck "ist" würde vielleicht die Subsumtion des Alls
unter die Kategorie des Organismus zu bestimmt ausgesprochen
haben. Diese Rücksicht konnte einerseits, obwohl sie doch so-
gleich darauf durchgeführt wird, vom "ist" zurückschrecken.
Andererseits könnte das "wird" durch eine doppelte Absicht,
welche im Hintergrunde des Bewußtseins dunkel wirkte, hervor-
getrieben sein. Erstlich die Absicht, nicht die ganze Natur, son-
dern nur einen Theil organisch sein zu lassen: indem hierbei
vorgestellt wurde, das allgemeine Leben sei nicht an sich, son-
dern werde unter folgenden Bedingungen, also theilweise nur
organisch; -- dies wäre Wirkung der ersten Verdrehung. Zwei-
tens aber könnte das "wird" auch gerade dies hervorheben, daß
Organismus ein allgemeinerer, methodologisch formaler Begriff
sei, und das All, welches also nicht an sich organisch ist, werde
es für unsere Betrachtung, indem u. s. w. Wer das geheime
Wirken dunkeler Vorstellungen in der unbewußten Tiefe des
Bewußtseins beobachtet hat, wird die Möglichkeit nicht läug-
nen, daß Becker durch die dargelegten drei Rücksichten zu-
gleich bewogen die Wendung "wird" ergriffen hat.

Aus den beiden entgegengesetzten Bewegungen seiner Ge-
danken erhielt Becker eine mittlere Ansicht als Ergebniß, wo-
durch Organismus und Natur identisch wurden. Dadurch war
aber jede feste Grenzbestimmung des Reiches organischer Dinge
unmöglich geworden, wie überhaupt jede Definition. Denn die
Grenze kann doch nur durch das specifische Merkmal des Or-
ganismus gezogen werden, d. i. die Natur. Diese wird aber
nicht bloß zugleich zum Allgemeinen und zu einer Art des zu
Definirenden gemacht und kann also nach keiner Seite als spe-
cifisches Merkmal dienen, sondern auch nach dem mittleren Er-

Begriff zur Abgrenzung der Dinge gebraucht wird. Nun be-
zeichnet man allerdings gewöhnlich mit dem Worte Organismus
ein Reich bestimmter natürlicher Wesen: dies macht sich in der
ersten Verdrehung geltend. Da aber ein bloß methodologischer,
auf alle Dinge anwendbarer Begriff dieser Beschränkung Trotz
bot, so entstand der Rückschlag, und Becker erfuhr nur die
Ironie, daß er mit der Absicht, den Organismus zu definiren,
vielmehr ganz im Gegentheil die Natur als organisch erweist,
indem er darstellt, wie auch in ihr der Gedanke, der Zweck
herrscht. Hier erinnern wir an die schon oben besprochenen
Worte: „Das allgemeine Leben wird zu einem organischen.”
Der Ausdruck „ist” würde vielleicht die Subsumtion des Alls
unter die Kategorie des Organismus zu bestimmt ausgesprochen
haben. Diese Rücksicht konnte einerseits, obwohl sie doch so-
gleich darauf durchgeführt wird, vom „ist” zurückschrecken.
Andererseits könnte das „wird” durch eine doppelte Absicht,
welche im Hintergrunde des Bewußtseins dunkel wirkte, hervor-
getrieben sein. Erstlich die Absicht, nicht die ganze Natur, son-
dern nur einen Theil organisch sein zu lassen: indem hierbei
vorgestellt wurde, das allgemeine Leben sei nicht an sich, son-
dern werde unter folgenden Bedingungen, also theilweise nur
organisch; — dies wäre Wirkung der ersten Verdrehung. Zwei-
tens aber könnte das „wird” auch gerade dies hervorheben, daß
Organismus ein allgemeinerer, methodologisch formaler Begriff
sei, und das All, welches also nicht an sich organisch ist, werde
es für unsere Betrachtung, indem u. s. w. Wer das geheime
Wirken dunkeler Vorstellungen in der unbewußten Tiefe des
Bewußtseins beobachtet hat, wird die Möglichkeit nicht läug-
nen, daß Becker durch die dargelegten drei Rücksichten zu-
gleich bewogen die Wendung „wird” ergriffen hat.

Aus den beiden entgegengesetzten Bewegungen seiner Ge-
danken erhielt Becker eine mittlere Ansicht als Ergebniß, wo-
durch Organismus und Natur identisch wurden. Dadurch war
aber jede feste Grenzbestimmung des Reiches organischer Dinge
unmöglich geworden, wie überhaupt jede Definition. Denn die
Grenze kann doch nur durch das specifische Merkmal des Or-
ganismus gezogen werden, d. i. die Natur. Diese wird aber
nicht bloß zugleich zum Allgemeinen und zu einer Art des zu
Definirenden gemacht und kann also nach keiner Seite als spe-
cifisches Merkmal dienen, sondern auch nach dem mittleren Er-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0052" n="14"/>
Begriff zur Abgrenzung der Dinge gebraucht wird. Nun be-<lb/>
zeichnet man allerdings gewöhnlich mit dem Worte Organismus<lb/>
ein Reich bestimmter natürlicher Wesen: dies macht sich in der<lb/>
ersten Verdrehung geltend. Da aber ein bloß methodologischer,<lb/>
auf alle Dinge anwendbarer Begriff dieser Beschränkung Trotz<lb/>
bot, so entstand der Rückschlag, und Becker erfuhr nur die<lb/>
Ironie, daß er mit der Absicht, den Organismus zu definiren,<lb/>
vielmehr ganz im Gegentheil die Natur als organisch erweist,<lb/>
indem er darstellt, wie auch in ihr der Gedanke, der Zweck<lb/>
herrscht. Hier erinnern wir an die schon oben besprochenen<lb/>
Worte: &#x201E;Das allgemeine Leben <hi rendition="#g">wird</hi> zu einem organischen.&#x201D;<lb/>
Der Ausdruck &#x201E;ist&#x201D; würde vielleicht die Subsumtion des Alls<lb/>
unter die Kategorie des Organismus zu bestimmt ausgesprochen<lb/>
haben. Diese Rücksicht konnte einerseits, obwohl sie doch so-<lb/>
gleich darauf durchgeführt wird, vom &#x201E;ist&#x201D; zurückschrecken.<lb/>
Andererseits könnte das &#x201E;wird&#x201D; durch eine doppelte Absicht,<lb/>
welche im Hintergrunde des Bewußtseins dunkel wirkte, hervor-<lb/>
getrieben sein. Erstlich die Absicht, nicht die ganze Natur, son-<lb/>
dern nur einen Theil organisch sein zu lassen: indem hierbei<lb/>
vorgestellt wurde, das allgemeine Leben sei nicht an sich, son-<lb/>
dern werde unter folgenden Bedingungen, also theilweise nur<lb/>
organisch; &#x2014; dies wäre Wirkung der ersten Verdrehung. Zwei-<lb/>
tens aber könnte das &#x201E;wird&#x201D; auch gerade dies hervorheben, daß<lb/>
Organismus ein allgemeinerer, methodologisch formaler Begriff<lb/>
sei, und das All, welches also nicht an sich organisch ist, werde<lb/>
es für unsere Betrachtung, indem u. s. w. Wer das geheime<lb/>
Wirken dunkeler Vorstellungen in der unbewußten Tiefe des<lb/>
Bewußtseins beobachtet hat, wird die Möglichkeit nicht läug-<lb/>
nen, daß Becker durch die dargelegten drei Rücksichten zu-<lb/>
gleich bewogen die Wendung &#x201E;wird&#x201D; ergriffen hat.</p><lb/>
                <p>Aus den beiden entgegengesetzten Bewegungen seiner Ge-<lb/>
danken erhielt Becker eine mittlere Ansicht als Ergebniß, wo-<lb/>
durch Organismus und Natur identisch wurden. Dadurch war<lb/>
aber jede feste <choice><sic>Grenzbestimmnng</sic><corr>Grenzbestimmung</corr></choice> des Reiches organischer Dinge<lb/>
unmöglich geworden, wie überhaupt jede Definition. Denn die<lb/>
Grenze kann doch nur durch das specifische Merkmal des Or-<lb/>
ganismus gezogen werden, d. i. die Natur. Diese wird aber<lb/>
nicht bloß zugleich zum Allgemeinen und zu einer Art des zu<lb/>
Definirenden gemacht und kann also nach keiner Seite als spe-<lb/>
cifisches Merkmal dienen, sondern auch nach dem mittleren Er-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0052] Begriff zur Abgrenzung der Dinge gebraucht wird. Nun be- zeichnet man allerdings gewöhnlich mit dem Worte Organismus ein Reich bestimmter natürlicher Wesen: dies macht sich in der ersten Verdrehung geltend. Da aber ein bloß methodologischer, auf alle Dinge anwendbarer Begriff dieser Beschränkung Trotz bot, so entstand der Rückschlag, und Becker erfuhr nur die Ironie, daß er mit der Absicht, den Organismus zu definiren, vielmehr ganz im Gegentheil die Natur als organisch erweist, indem er darstellt, wie auch in ihr der Gedanke, der Zweck herrscht. Hier erinnern wir an die schon oben besprochenen Worte: „Das allgemeine Leben wird zu einem organischen.” Der Ausdruck „ist” würde vielleicht die Subsumtion des Alls unter die Kategorie des Organismus zu bestimmt ausgesprochen haben. Diese Rücksicht konnte einerseits, obwohl sie doch so- gleich darauf durchgeführt wird, vom „ist” zurückschrecken. Andererseits könnte das „wird” durch eine doppelte Absicht, welche im Hintergrunde des Bewußtseins dunkel wirkte, hervor- getrieben sein. Erstlich die Absicht, nicht die ganze Natur, son- dern nur einen Theil organisch sein zu lassen: indem hierbei vorgestellt wurde, das allgemeine Leben sei nicht an sich, son- dern werde unter folgenden Bedingungen, also theilweise nur organisch; — dies wäre Wirkung der ersten Verdrehung. Zwei- tens aber könnte das „wird” auch gerade dies hervorheben, daß Organismus ein allgemeinerer, methodologisch formaler Begriff sei, und das All, welches also nicht an sich organisch ist, werde es für unsere Betrachtung, indem u. s. w. Wer das geheime Wirken dunkeler Vorstellungen in der unbewußten Tiefe des Bewußtseins beobachtet hat, wird die Möglichkeit nicht läug- nen, daß Becker durch die dargelegten drei Rücksichten zu- gleich bewogen die Wendung „wird” ergriffen hat. Aus den beiden entgegengesetzten Bewegungen seiner Ge- danken erhielt Becker eine mittlere Ansicht als Ergebniß, wo- durch Organismus und Natur identisch wurden. Dadurch war aber jede feste Grenzbestimmung des Reiches organischer Dinge unmöglich geworden, wie überhaupt jede Definition. Denn die Grenze kann doch nur durch das specifische Merkmal des Or- ganismus gezogen werden, d. i. die Natur. Diese wird aber nicht bloß zugleich zum Allgemeinen und zu einer Art des zu Definirenden gemacht und kann also nach keiner Seite als spe- cifisches Merkmal dienen, sondern auch nach dem mittleren Er-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/52
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/52>, abgerufen am 27.04.2024.