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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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schen Reflexionen durch wesentliche Leitung geltend machen,
ohne in das Selbstbewußtsein zu treten. Diese unbewußten Füh-
rer der Gedanken ans Licht zu ziehen, ist das vorzüglichste
Geschäft des Kritikers -- ein Geschäft, gefahrvoll, aber nicht
bloß unvermeidlich, sondern sogar möglich mit überzeugender
Kraft durchgeführt zu werden. Was den obigen Schluß be-
trifft, so ist er nur scheinbar ein Schluß: das hat Becker ge-
fühlt, und dieses Gefühl hat ihn von demselben zurückgehalten.
In demselben liegt nämlich gar kein Fortschritt; sondern seine
drei Sätze sagen dasselbe mit anderen Worten. Da er aber ei-
gentlich in Beckers Definition der organischen Verrichtung
liegt, so stoßen wir hier abermals, aber umfassender und tiefer,
auf die Tautologie dieser Definition. Nicht bloß, daß in dem-
selben das erst zu definirende Wort vielfach gebraucht wird;
sondern die beiden Merkmale sind selbst wieder dasselbe. Oder
wo ist der Unterschied, ob ich sage, es gehe eine Verrichtung
mit einer innern Nothwendigkeit aus dem Leben hervor; oder
ob ich sage, eine Verrichtung habe das Leben zum Zwecke?
Denn, muß eine Verrichtung nothwendig aus dem Leben her-
vorgehen, so wäre das Leben nicht eben dieses selbst, wenn jene
nicht aus ihm hervorginge; damit also das Leben es selber sei,
zu diesem Zwecke geht jene Verrichtung aus ihm hervor; oder
diese hat den Zweck das Leben erst zum Leben zu machen --
d. h. es ist hier nur ein leeres logisches Formel-Spiel, in wel-
chem die Verrichtung bald als Folge bald als Mittel angese-
hen wird.

Sie ist aber nur darum beides, weil sie keins von beiden
ist: sie ist scheinbar, beliebig nach subjectiver, sophistischer Auf-
fassung, das eine wie das andere; sie ist aber in Wahrheit, in
echt speculativer Auffassung vielmehr eine von den vielen Sei-
ten, welche zusammen das Ganze des vielseitigen Lebens bil-
den. Das Athmen z. B. ist weder nothwendige Folge, noch
Ursache des Lebens; ist weder Zweck des Lebens, noch hat es
dasselbe zum Zwecke; sondern es ist eben das Leben nach ei-
ner Seite seines Seins. Und so erkennen wir nun das Idem-
per-idem
jener Beckerschen Definition auch im Ganzen: indem
nicht nur die beiden Merkmale nur eins sind, sondern auch mit
dem zu Definirenden zusammenfallen; so daß eigentlich nur ge-
sagt wird: eine organische Verrichtung ist eine Verrichtung,
welche organisch ist. Nach solcher Definition läßt sich natür-

schen Reflexionen durch wesentliche Leitung geltend machen,
ohne in das Selbstbewußtsein zu treten. Diese unbewußten Füh-
rer der Gedanken ans Licht zu ziehen, ist das vorzüglichste
Geschäft des Kritikers — ein Geschäft, gefahrvoll, aber nicht
bloß unvermeidlich, sondern sogar möglich mit überzeugender
Kraft durchgeführt zu werden. Was den obigen Schluß be-
trifft, so ist er nur scheinbar ein Schluß: das hat Becker ge-
fühlt, und dieses Gefühl hat ihn von demselben zurückgehalten.
In demselben liegt nämlich gar kein Fortschritt; sondern seine
drei Sätze sagen dasselbe mit anderen Worten. Da er aber ei-
gentlich in Beckers Definition der organischen Verrichtung
liegt, so stoßen wir hier abermals, aber umfassender und tiefer,
auf die Tautologie dieser Definition. Nicht bloß, daß in dem-
selben das erst zu definirende Wort vielfach gebraucht wird;
sondern die beiden Merkmale sind selbst wieder dasselbe. Oder
wo ist der Unterschied, ob ich sage, es gehe eine Verrichtung
mit einer innern Nothwendigkeit aus dem Leben hervor; oder
ob ich sage, eine Verrichtung habe das Leben zum Zwecke?
Denn, muß eine Verrichtung nothwendig aus dem Leben her-
vorgehen, so wäre das Leben nicht eben dieses selbst, wenn jene
nicht aus ihm hervorginge; damit also das Leben es selber sei,
zu diesem Zwecke geht jene Verrichtung aus ihm hervor; oder
diese hat den Zweck das Leben erst zum Leben zu machen —
d. h. es ist hier nur ein leeres logisches Formel-Spiel, in wel-
chem die Verrichtung bald als Folge bald als Mittel angese-
hen wird.

Sie ist aber nur darum beides, weil sie keins von beiden
ist: sie ist scheinbar, beliebig nach subjectiver, sophistischer Auf-
fassung, das eine wie das andere; sie ist aber in Wahrheit, in
echt speculativer Auffassung vielmehr eine von den vielen Sei-
ten, welche zusammen das Ganze des vielseitigen Lebens bil-
den. Das Athmen z. B. ist weder nothwendige Folge, noch
Ursache des Lebens; ist weder Zweck des Lebens, noch hat es
dasselbe zum Zwecke; sondern es ist eben das Leben nach ei-
ner Seite seines Seins. Und so erkennen wir nun das Idem-
per-idem
jener Beckerschen Definition auch im Ganzen: indem
nicht nur die beiden Merkmale nur eins sind, sondern auch mit
dem zu Definirenden zusammenfallen; so daß eigentlich nur ge-
sagt wird: eine organische Verrichtung ist eine Verrichtung,
welche organisch ist. Nach solcher Definition läßt sich natür-

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[32/0070] schen Reflexionen durch wesentliche Leitung geltend machen, ohne in das Selbstbewußtsein zu treten. Diese unbewußten Füh- rer der Gedanken ans Licht zu ziehen, ist das vorzüglichste Geschäft des Kritikers — ein Geschäft, gefahrvoll, aber nicht bloß unvermeidlich, sondern sogar möglich mit überzeugender Kraft durchgeführt zu werden. Was den obigen Schluß be- trifft, so ist er nur scheinbar ein Schluß: das hat Becker ge- fühlt, und dieses Gefühl hat ihn von demselben zurückgehalten. In demselben liegt nämlich gar kein Fortschritt; sondern seine drei Sätze sagen dasselbe mit anderen Worten. Da er aber ei- gentlich in Beckers Definition der organischen Verrichtung liegt, so stoßen wir hier abermals, aber umfassender und tiefer, auf die Tautologie dieser Definition. Nicht bloß, daß in dem- selben das erst zu definirende Wort vielfach gebraucht wird; sondern die beiden Merkmale sind selbst wieder dasselbe. Oder wo ist der Unterschied, ob ich sage, es gehe eine Verrichtung mit einer innern Nothwendigkeit aus dem Leben hervor; oder ob ich sage, eine Verrichtung habe das Leben zum Zwecke? Denn, muß eine Verrichtung nothwendig aus dem Leben her- vorgehen, so wäre das Leben nicht eben dieses selbst, wenn jene nicht aus ihm hervorginge; damit also das Leben es selber sei, zu diesem Zwecke geht jene Verrichtung aus ihm hervor; oder diese hat den Zweck das Leben erst zum Leben zu machen — d. h. es ist hier nur ein leeres logisches Formel-Spiel, in wel- chem die Verrichtung bald als Folge bald als Mittel angese- hen wird. Sie ist aber nur darum beides, weil sie keins von beiden ist: sie ist scheinbar, beliebig nach subjectiver, sophistischer Auf- fassung, das eine wie das andere; sie ist aber in Wahrheit, in echt speculativer Auffassung vielmehr eine von den vielen Sei- ten, welche zusammen das Ganze des vielseitigen Lebens bil- den. Das Athmen z. B. ist weder nothwendige Folge, noch Ursache des Lebens; ist weder Zweck des Lebens, noch hat es dasselbe zum Zwecke; sondern es ist eben das Leben nach ei- ner Seite seines Seins. Und so erkennen wir nun das Idem- per-idem jener Beckerschen Definition auch im Ganzen: indem nicht nur die beiden Merkmale nur eins sind, sondern auch mit dem zu Definirenden zusammenfallen; so daß eigentlich nur ge- sagt wird: eine organische Verrichtung ist eine Verrichtung, welche organisch ist. Nach solcher Definition läßt sich natür-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/70>, abgerufen am 29.04.2024.