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Stifter, Adalbert: Brigitta. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–301. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Jahre mußte ich dich entbehren und fünfzehn Jahre warst du geopfert.

Sie aber faltete die Hände und sagte bittend in sein Antlitz blickend: Ich habe gefehlt, verzeihe mir, Stephan, die Sünde des Stolzes -- ich habe nicht geahnt, wie gut du seist -- es war ja bloß natürlich, es ist ein sanftes Gesetz der Schönheit, das uns ziehet -- --

Er hielt ihr den Mund zu und sagte: Wie kannst du nur so reden, Brigitta -- ja, es zieht uns das Gesetz der Schönheit, aber ich mußte die ganze Welt durchziehen, bis ich lernte, daß sie im Herzen liegt und daß ich sie daheim gelassen in einem Herzen, das es einzig gut mit mir gemeint hat, das fest und treu ist, das ich verloren glaubte und das doch durch alle Jahre und Länder mit mir gezogen. -- O Brigitta, Mutter meines Kindes! du standest Tag und Nacht vor meinen Augen.

Ich war dir nicht verloren, antwortete sie, ich habe traurige, reuevolle Jahre verlebt! -- Wie bist du gut geworden, jetzt kenne ich dich, wie bist du gut geworden, Stephan!

Und wieder stürzten sie sich in die Arme, als könnten sie sich nicht ersättigen, als könnten sie an das gewonnene Glück nicht glauben. Sie waren wie zwei Menschen, von denen eine große Last genommen ist. Die Welt stand wieder offen. Eine Freude, wie man sie nur an Kindern findet, war an ihnen -- in dem

Jahre mußte ich dich entbehren und fünfzehn Jahre warst du geopfert.

Sie aber faltete die Hände und sagte bittend in sein Antlitz blickend: Ich habe gefehlt, verzeihe mir, Stephan, die Sünde des Stolzes — ich habe nicht geahnt, wie gut du seist — es war ja bloß natürlich, es ist ein sanftes Gesetz der Schönheit, das uns ziehet — —

Er hielt ihr den Mund zu und sagte: Wie kannst du nur so reden, Brigitta — ja, es zieht uns das Gesetz der Schönheit, aber ich mußte die ganze Welt durchziehen, bis ich lernte, daß sie im Herzen liegt und daß ich sie daheim gelassen in einem Herzen, das es einzig gut mit mir gemeint hat, das fest und treu ist, das ich verloren glaubte und das doch durch alle Jahre und Länder mit mir gezogen. — O Brigitta, Mutter meines Kindes! du standest Tag und Nacht vor meinen Augen.

Ich war dir nicht verloren, antwortete sie, ich habe traurige, reuevolle Jahre verlebt! — Wie bist du gut geworden, jetzt kenne ich dich, wie bist du gut geworden, Stephan!

Und wieder stürzten sie sich in die Arme, als könnten sie sich nicht ersättigen, als könnten sie an das gewonnene Glück nicht glauben. Sie waren wie zwei Menschen, von denen eine große Last genommen ist. Die Welt stand wieder offen. Eine Freude, wie man sie nur an Kindern findet, war an ihnen — in dem

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:12:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:12:00Z)

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Brigitta. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–301. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_brigitta_1910/91>, abgerufen am 29.04.2024.