Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

des Nordens Wärme gibt, hinter dem feinen Gitter
eines Kamines freundlich loderte, und in welchem
alles auf das Reinlichste geordnet war, sezte mich in
einiger Entfernung von dem Fenster in einen weichen
Siz, und begann unter dem Prasseln des Regens an
den Fenstern von der ersten Zeile an zu lesen. Die
fremden Worte, die als lebendig gesprochen einer
fernen Zeit angehörten, die Gestalten, welche durch
diese Worte in unsere Zeit mit all ihrer ihnen einstens
angehörigen Eigenthümlichkeit heraufgeführt wurden,
schlossen sich an die Jungfrau an, welche ich auf der
Treppe hatte stehen gesehen. Als Nausikae kam, war
es mir wieder, wie es mir bei der ersten richtigen Be¬
trachtung der Marmorgestalt gewesen war, die Ge¬
wänder des harten Stoffes löseten sich zu leichter
Milde, die Glieder bewegten sich, das Angesicht er¬
hielt wandelbares Leben, und die Gestalt trat als
Nausikae zu mir. Es war auch die Erinnerung jenes
Abends gewesen, die heute meine Hand, als ich von
der Treppe in den Marmorsaal und in das Bilderzim¬
mer herauf gekommen war, und in diesen keine Befrie¬
digung gefunden hatte, zu den Worten Homers im
Odysseus greifen ließ. Als die Helden das Mahl in
dem Saale genossen hatten, als der Sänger gerufen

13 *

des Nordens Wärme gibt, hinter dem feinen Gitter
eines Kamines freundlich loderte, und in welchem
alles auf das Reinlichſte geordnet war, ſezte mich in
einiger Entfernung von dem Fenſter in einen weichen
Siz, und begann unter dem Praſſeln des Regens an
den Fenſtern von der erſten Zeile an zu leſen. Die
fremden Worte, die als lebendig geſprochen einer
fernen Zeit angehörten, die Geſtalten, welche durch
dieſe Worte in unſere Zeit mit all ihrer ihnen einſtens
angehörigen Eigenthümlichkeit heraufgeführt wurden,
ſchloſſen ſich an die Jungfrau an, welche ich auf der
Treppe hatte ſtehen geſehen. Als Nauſikae kam, war
es mir wieder, wie es mir bei der erſten richtigen Be¬
trachtung der Marmorgeſtalt geweſen war, die Ge¬
wänder des harten Stoffes löſeten ſich zu leichter
Milde, die Glieder bewegten ſich, das Angeſicht er¬
hielt wandelbares Leben, und die Geſtalt trat als
Nauſikae zu mir. Es war auch die Erinnerung jenes
Abends geweſen, die heute meine Hand, als ich von
der Treppe in den Marmorſaal und in das Bilderzim¬
mer herauf gekommen war, und in dieſen keine Befrie¬
digung gefunden hatte, zu den Worten Homers im
Odyſſeus greifen ließ. Als die Helden das Mahl in
dem Saale genoſſen hatten, als der Sänger gerufen

13 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0209" n="195"/>
des Nordens Wärme gibt, hinter dem feinen Gitter<lb/>
eines Kamines freundlich loderte, und in welchem<lb/>
alles auf das Reinlich&#x017F;te geordnet war, &#x017F;ezte mich in<lb/>
einiger Entfernung von dem Fen&#x017F;ter in einen weichen<lb/>
Siz, und begann unter dem Pra&#x017F;&#x017F;eln des Regens an<lb/>
den Fen&#x017F;tern von der er&#x017F;ten Zeile an zu le&#x017F;en. Die<lb/>
fremden Worte, die als lebendig ge&#x017F;prochen einer<lb/>
fernen Zeit angehörten, die Ge&#x017F;talten, welche durch<lb/>
die&#x017F;e Worte in un&#x017F;ere Zeit mit all ihrer ihnen ein&#x017F;tens<lb/>
angehörigen Eigenthümlichkeit heraufgeführt wurden,<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich an die Jungfrau an, welche ich auf der<lb/>
Treppe hatte &#x017F;tehen ge&#x017F;ehen. Als Nau&#x017F;ikae kam, war<lb/>
es mir wieder, wie es mir bei der er&#x017F;ten richtigen Be¬<lb/>
trachtung der Marmorge&#x017F;talt gewe&#x017F;en war, die Ge¬<lb/>
wänder des harten Stoffes lö&#x017F;eten &#x017F;ich zu leichter<lb/>
Milde, die <choice><sic>Gliede</sic><corr>Glieder</corr></choice> bewegten &#x017F;ich, das Ange&#x017F;icht er¬<lb/>
hielt wandelbares Leben, und die Ge&#x017F;talt trat als<lb/>
Nau&#x017F;ikae zu mir. Es war auch die Erinnerung jenes<lb/>
Abends gewe&#x017F;en, die heute meine Hand, als ich von<lb/>
der Treppe in den Marmor&#x017F;aal und in das Bilderzim¬<lb/>
mer herauf gekommen war, und in die&#x017F;en keine Befrie¬<lb/>
digung gefunden hatte, zu den Worten Homers im<lb/>
Ody&#x017F;&#x017F;eus greifen ließ. Als die Helden das Mahl in<lb/>
dem Saale geno&#x017F;&#x017F;en hatten, als der Sänger gerufen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">13 *<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0209] des Nordens Wärme gibt, hinter dem feinen Gitter eines Kamines freundlich loderte, und in welchem alles auf das Reinlichſte geordnet war, ſezte mich in einiger Entfernung von dem Fenſter in einen weichen Siz, und begann unter dem Praſſeln des Regens an den Fenſtern von der erſten Zeile an zu leſen. Die fremden Worte, die als lebendig geſprochen einer fernen Zeit angehörten, die Geſtalten, welche durch dieſe Worte in unſere Zeit mit all ihrer ihnen einſtens angehörigen Eigenthümlichkeit heraufgeführt wurden, ſchloſſen ſich an die Jungfrau an, welche ich auf der Treppe hatte ſtehen geſehen. Als Nauſikae kam, war es mir wieder, wie es mir bei der erſten richtigen Be¬ trachtung der Marmorgeſtalt geweſen war, die Ge¬ wänder des harten Stoffes löſeten ſich zu leichter Milde, die Glieder bewegten ſich, das Angeſicht er¬ hielt wandelbares Leben, und die Geſtalt trat als Nauſikae zu mir. Es war auch die Erinnerung jenes Abends geweſen, die heute meine Hand, als ich von der Treppe in den Marmorſaal und in das Bilderzim¬ mer herauf gekommen war, und in dieſen keine Befrie¬ digung gefunden hatte, zu den Worten Homers im Odyſſeus greifen ließ. Als die Helden das Mahl in dem Saale genoſſen hatten, als der Sänger gerufen 13 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/209
Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/209>, abgerufen am 29.04.2024.