Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Storm, Theodor: Immensee. Berlin, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

schein lag wie Schaum auf den Wäldern jenseit des
Sees. Reinhardt rollte das Blatt auf, Elisabeth legte
an der einen Seite ihre Hand darauf, und sah mit
hinein. Dann las Reinhardt:

Meine Mutter hat's gewollt,
Den Andern ich nehmen sollt';
Was ich zuvor besessen,
Mein Herz sollt' es vergessen;
Das hat es nicht gewollt.
Meine Mutter klag' ich an,
Sie hat nicht wohlgethan;
Was sonst in Ehren stünde,
Nun ist es worden Sünde.
Was fang' ich an!
Für all mein Stolz und Freud'
Gewonnen hab' ich Leid.
Ach, wär' das nicht geschehen,
Ach, könnt' ich betteln gehen
Ueber die braune Haid !

Während des Lesens hatte Reinhardt ein unmer¬
liches Zittern des Papiers empfunden; als er zu Ende
war, schob Elisabeth leise ihren Stuhl zurück, und
ging schweigend in den Garten hinab. Ein Blick der
Mutter folgte ihr. Erich wollte nachgehen; doch die
Mutter sagte: Elisabeth hat draußen zu thun. So
unterblieb es.

ſchein lag wie Schaum auf den Wäldern jenſeit des
Sees. Reinhardt rollte das Blatt auf, Eliſabeth legte
an der einen Seite ihre Hand darauf, und ſah mit
hinein. Dann las Reinhardt:

Meine Mutter hat's gewollt,
Den Andern ich nehmen ſollt';
Was ich zuvor beſeſſen,
Mein Herz ſollt' es vergeſſen;
Das hat es nicht gewollt.
Meine Mutter klag' ich an,
Sie hat nicht wohlgethan;
Was ſonſt in Ehren ſtünde,
Nun iſt es worden Sünde.
Was fang' ich an!
Für all mein Stolz und Freud’
Gewonnen hab' ich Leid.
Ach, wär' das nicht geſchehen,
Ach, könnt' ich betteln gehen
Ueber die braune Haid !

Während des Leſens hatte Reinhardt ein unmer¬
liches Zittern des Papiers empfunden; als er zu Ende
war, ſchob Eliſabeth leiſe ihren Stuhl zurück, und
ging ſchweigend in den Garten hinab. Ein Blick der
Mutter folgte ihr. Erich wollte nachgehen; doch die
Mutter ſagte: Eliſabeth hat draußen zu thun. So
unterblieb es.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0056" n="50"/>
&#x017F;chein lag wie Schaum auf den Wäldern jen&#x017F;eit des<lb/>
Sees. Reinhardt rollte das Blatt auf, Eli&#x017F;abeth legte<lb/>
an der einen Seite ihre Hand darauf, und &#x017F;ah mit<lb/>
hinein. Dann las Reinhardt:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <lg n="1">
            <l>Meine Mutter hat's gewollt,</l><lb/>
            <l>Den Andern ich nehmen &#x017F;ollt';</l><lb/>
            <l>Was ich zuvor be&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
            <l>Mein Herz &#x017F;ollt' es verge&#x017F;&#x017F;en;</l><lb/>
            <l>Das hat es nicht gewollt.</l><lb/>
          </lg>
          <lg n="2">
            <l>Meine Mutter klag' ich an,</l><lb/>
            <l>Sie hat nicht wohlgethan;</l><lb/>
            <l>Was &#x017F;on&#x017F;t in Ehren &#x017F;tünde,</l><lb/>
            <l>Nun i&#x017F;t es worden Sünde.</l><lb/>
            <l>Was fang' ich an!</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="3">
            <l>Für all mein Stolz und Freud&#x2019;</l><lb/>
            <l>Gewonnen hab' ich Leid.</l><lb/>
            <l>Ach, wär' das nicht ge&#x017F;chehen,</l><lb/>
            <l>Ach, könnt' ich betteln gehen</l><lb/>
            <l>Ueber die braune Haid !</l>
          </lg>
        </lg><lb/>
        <p>Während des Le&#x017F;ens hatte Reinhardt ein unmer¬<lb/>
liches Zittern des Papiers empfunden; als er zu Ende<lb/>
war, &#x017F;chob Eli&#x017F;abeth lei&#x017F;e ihren Stuhl zurück, und<lb/>
ging &#x017F;chweigend in den Garten hinab. Ein Blick der<lb/>
Mutter folgte ihr. Erich wollte nachgehen; doch die<lb/>
Mutter &#x017F;agte: Eli&#x017F;abeth hat draußen zu thun. So<lb/>
unterblieb es.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[50/0056] ſchein lag wie Schaum auf den Wäldern jenſeit des Sees. Reinhardt rollte das Blatt auf, Eliſabeth legte an der einen Seite ihre Hand darauf, und ſah mit hinein. Dann las Reinhardt: Meine Mutter hat's gewollt, Den Andern ich nehmen ſollt'; Was ich zuvor beſeſſen, Mein Herz ſollt' es vergeſſen; Das hat es nicht gewollt. Meine Mutter klag' ich an, Sie hat nicht wohlgethan; Was ſonſt in Ehren ſtünde, Nun iſt es worden Sünde. Was fang' ich an! Für all mein Stolz und Freud’ Gewonnen hab' ich Leid. Ach, wär' das nicht geſchehen, Ach, könnt' ich betteln gehen Ueber die braune Haid ! Während des Leſens hatte Reinhardt ein unmer¬ liches Zittern des Papiers empfunden; als er zu Ende war, ſchob Eliſabeth leiſe ihren Stuhl zurück, und ging ſchweigend in den Garten hinab. Ein Blick der Mutter folgte ihr. Erich wollte nachgehen; doch die Mutter ſagte: Eliſabeth hat draußen zu thun. So unterblieb es.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Theodor Storms Novelle "Immensee" erschien zuerst… [mehr]

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/storm_immensee_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/storm_immensee_1852/56
Zitationshilfe: Storm, Theodor: Immensee. Berlin, 1852, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_immensee_1852/56>, abgerufen am 15.05.2024.