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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Erster Abschnitt.
Geburtsgeschichte nach mindestens 60 Jahren noch mit ur-
kundlicher Genauigkeit habe überliefert werden können?
Hier hat Paulus die auch von Andern (wie Heydenreich,
Olshausen
) gebilligte Antwort bereit, vermuthlich sei
der von Lukas 1, 5--2, 39. eingerückte Aufsaz eine unter
der Verwandtschaft des Täufers und Jesu circulirende,
wahrscheinlich von Zacharias verfasste Familiennachricht
gewesen 13), -- eine aus der Luft gegriffene, moderne
Hypothese, welche viel zu ernsthaft behandelt wird, wenn
man ihr mit K. Ch. L. Schmidt entgegenhält, eine so ent-
stellte (wir würden blos sagen: ausgeschmückte) Erzäh-
lung könne unmöglich ein Familienaufsaz sein, sondern
wenn sie nicht ganz in die Klasse der Legenden gehöre,
so sei doch ihre etwaige geschichtliche Grundlage nicht
mehr zu unterscheiden 14). Weiter wird angeführt, in
der Erzählung selbst finden sich Züge, welche kein Dich-
ter hätte ersinnen können, welche somit darauf hinweisen,
dass der Bericht ein unmittelbarer Abdruck des Faktums
sei. Ein solcher Zug soll von Allen der sein, dass die
messianischen Erwartungen der verschiedenen Luc. 1. u. 2.
redend eingeführten Personen so richtig nach ihren Um-
ständen und Verhältnissen gezeichnet seien 15): allein diese
Unterschiede sind gar nicht so scharf vorhanden, wie sie Pau-
lus
dafür ausgiebt, sondern sie verhalten sich mehr nur als
Fortschritt vom Allgemeinen zum Bestimmteren, der auch ei-
nem Dichter oder einer Volkssage natürlich ist. Ueber-
haupt wird man mit Schleiermacher sagen müssen, diese
Reden lassen sich gerade am wenigsten als historisch ge-
nau im engsten Sinne nehmen, und behaupten, Zacharias
habe wirklich in dem Augenblick, als er die Sprache wie-
der erhielt, sie auch zu jenem Lobgesang benüzt, ohne

13) a. a. O. S. 69.
14) In Schmidt's Bibliothek für Kritik und Exegese 3, 1, S. 119.
15) Paulus a. a. O.

Erster Abschnitt.
Geburtsgeschichte nach mindestens 60 Jahren noch mit ur-
kundlicher Genauigkeit habe überliefert werden können?
Hier hat Paulus die auch von Andern (wie Heydenreich,
Olshausen
) gebilligte Antwort bereit, vermuthlich sei
der von Lukas 1, 5—2, 39. eingerückte Aufsaz eine unter
der Verwandtschaft des Täufers und Jesu circulirende,
wahrscheinlich von Zacharias verfaſste Familiennachricht
gewesen 13), — eine aus der Luft gegriffene, moderne
Hypothese, welche viel zu ernsthaft behandelt wird, wenn
man ihr mit K. Ch. L. Schmidt entgegenhält, eine so ent-
stellte (wir würden blos sagen: ausgeschmückte) Erzäh-
lung könne unmöglich ein Familienaufsaz sein, sondern
wenn sie nicht ganz in die Klasse der Legenden gehöre,
so sei doch ihre etwaige geschichtliche Grundlage nicht
mehr zu unterscheiden 14). Weiter wird angeführt, in
der Erzählung selbst finden sich Züge, welche kein Dich-
ter hätte ersinnen können, welche somit darauf hinweisen,
daſs der Bericht ein unmittelbarer Abdruck des Faktums
sei. Ein solcher Zug soll von Allen der sein, daſs die
messianischen Erwartungen der verschiedenen Luc. 1. u. 2.
redend eingeführten Personen so richtig nach ihren Um-
ständen und Verhältnissen gezeichnet seien 15): allein diese
Unterschiede sind gar nicht so scharf vorhanden, wie sie Pau-
lus
dafür ausgiebt, sondern sie verhalten sich mehr nur als
Fortschritt vom Allgemeinen zum Bestimmteren, der auch ei-
nem Dichter oder einer Volkssage natürlich ist. Ueber-
haupt wird man mit Schleiermacher sagen müssen, diese
Reden lassen sich gerade am wenigsten als historisch ge-
nau im engsten Sinne nehmen, und behaupten, Zacharias
habe wirklich in dem Augenblick, als er die Sprache wie-
der erhielt, sie auch zu jenem Lobgesang benüzt, ohne

13) a. a. O. S. 69.
14) In Schmidt's Bibliothek für Kritik und Exegese 3, 1, S. 119.
15) Paulus a. a. O.
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[96/0120] Erster Abschnitt. Geburtsgeschichte nach mindestens 60 Jahren noch mit ur- kundlicher Genauigkeit habe überliefert werden können? Hier hat Paulus die auch von Andern (wie Heydenreich, Olshausen) gebilligte Antwort bereit, vermuthlich sei der von Lukas 1, 5—2, 39. eingerückte Aufsaz eine unter der Verwandtschaft des Täufers und Jesu circulirende, wahrscheinlich von Zacharias verfaſste Familiennachricht gewesen 13), — eine aus der Luft gegriffene, moderne Hypothese, welche viel zu ernsthaft behandelt wird, wenn man ihr mit K. Ch. L. Schmidt entgegenhält, eine so ent- stellte (wir würden blos sagen: ausgeschmückte) Erzäh- lung könne unmöglich ein Familienaufsaz sein, sondern wenn sie nicht ganz in die Klasse der Legenden gehöre, so sei doch ihre etwaige geschichtliche Grundlage nicht mehr zu unterscheiden 14). Weiter wird angeführt, in der Erzählung selbst finden sich Züge, welche kein Dich- ter hätte ersinnen können, welche somit darauf hinweisen, daſs der Bericht ein unmittelbarer Abdruck des Faktums sei. Ein solcher Zug soll von Allen der sein, daſs die messianischen Erwartungen der verschiedenen Luc. 1. u. 2. redend eingeführten Personen so richtig nach ihren Um- ständen und Verhältnissen gezeichnet seien 15): allein diese Unterschiede sind gar nicht so scharf vorhanden, wie sie Pau- lus dafür ausgiebt, sondern sie verhalten sich mehr nur als Fortschritt vom Allgemeinen zum Bestimmteren, der auch ei- nem Dichter oder einer Volkssage natürlich ist. Ueber- haupt wird man mit Schleiermacher sagen müssen, diese Reden lassen sich gerade am wenigsten als historisch ge- nau im engsten Sinne nehmen, und behaupten, Zacharias habe wirklich in dem Augenblick, als er die Sprache wie- der erhielt, sie auch zu jenem Lobgesang benüzt, ohne 13) a. a. O. S. 69. 14) In Schmidt's Bibliothek für Kritik und Exegese 3, 1, S. 119. 15) Paulus a. a. O.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/120>, abgerufen am 28.04.2024.